Tod durch Apfel
4.5.2003
Wie an jedem Abend fuhr ich mit dem Regionalexpress nach Hause. Es handelt sich hierbei um einen alten roten Bummelzug, der natürlich an jeder Station hält. Beginnend bei Bad Schwartau, wo ich einsteige, über Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Haffkrug bis nach Sierksdorf, wo ich aussteige.
Ich versuche immer einen Platz zu bekommen, der möglichst nicht von Menschen umgeben ist. Einerseits, weil ich in Ruhe lesen oder mit meinem handheld arbeiten möchte. Andererseits, weil ich die Angewohnheit habe, einen Apfel zu essen.
Heute hatte ich einen der übergroßen Äpfel dabei, die manchmal bei ALDI angeboten werden (ich kaufe nur bei ALDI und muss deshalb das nehmen, was gerade da ist). Diese Sorte von Äpfeln sind mir eigentlich zu groß, weil sich das Aufessen über mindestens drei Stationen hinzieht, und ich deshalb nicht genügend Zeit für mein handheld habe.
Ein gewisser Nachteil dieser Äpfel liegt darin, dass das Abbeissen ein Geräusch erzeugt, das an das Brechen eines dicken und harten Astes erinnert. Nun ist zwar das Fahrtgeräusch vorhanden, außer der Zug hält gerade, dann beiße ich nicht ab, aber das Krachen ist bei jedem Biss im Umkreis von mindestens fünf Metern dennoch deutlich zu hören. Das bedeutet je nach Besetzung des Waggons, dass in der Regel sechs bis acht Fahrgäste akustische Zeugen der stückweisen Vernichtung eines Apfels werden.
Diesmal klemmte ich mich in eine Sitzreihe hinter der Reihe, in der – ebenfalls am Fenster – ein enddreißigjähriger, gut gekleideter Mann saß und las. Man kann im Zug den Vordermann nur bei den Ohren sehen, man links, mal rechts neben der Kopfstütze. Ich holte meinen großen ALDI-Apfel aus meinem Rucksack und biß hinein. Dabei wandte ich eine neue Zug-Beißtechnik an. Mit der unteren Zahnreihe ritzte ich zunächst von links nach rechts und umgekehrt eine Spalte in den Apfel und versenkte dann die untere Zahnreihe langsam in den recht harten Apfel. Darauf klammerte ich das herauszubrechende Stück mit der oberen Zahnreihe und biß langsam immer fester zu. Dieser Vorgang ist noch relativ geräuschlos. Das Krachen entsteht immer in dem Moment, wenn sich der avisierte Brocken mit einem Schlag aus dem Apfel löst (ein wunderschöner Augenblick für fanatische Apfelesser – nur nicht im Zug).
Das Abbeissen wiederholt sich normalerweise im Abstand von etwa dreißig Sekunden. Psychologisch gesehen stieg jetzt mit jedem Bissen mein Mitgefühl mit meinem Vordermann, der natürlich nicht mehr konzentriert lesen konnte, da sich im Abstand von kaum 50 Zentimetern hinter ihm alle halbe Minuten ein saftiges Krachen entlud. Dies ging etwa fünf Minuten lang gut (das sind genau 10 Kracher), dann beugte sich mein Vordermann abrupt nach vorne, um in dieser Haltung zu verharren, das Buch wahrscheinlich zwischen den Knien. Es war sein verzweifelter Versuch, Abstand von der Geräuschquelle zu gewinnen, was natürlich völlig vergeblich war, da – wie ich eingangs erläuterte – die akustische Reichweite eines Apfelvernichtungsvorgangs gut fünf Meter (im Radius !) beträgt.
Wir kamen im Bahnhof von Timmendorfer Strand an. Dort wartet der Zug etwa 8 Minuten lang auf einen Gegenzug. Dabei ist es im Waggon normalerweise, wenn nicht gerade Kinder anwesend sind, totenstill. An ein Weiteressen war nicht mehr zu denken. Ich steckte den halben Apfel in die Seitentasche meines Anoraks.
Nach einiger Zeit lehnte sich mein Vordermann wieder zurück und schien sich allmählich zu entspannen. Beim Wiederanfahren war sein linkes Ohr in meinem Blickfeld. Nun gibt es ein psychologisches Phänomen, das man als „Springzwang“ bezeichnen könnte. Wenn ich auf einem hohen Turm bin, wie vor langer Zeit einmal am höchsten Punkt des Ulmer Münsters, muss ich mich geradezu zwingen, stillzuhalten und nicht über die Brüstung in die Tiefe zu springen. Ich weiß nicht, woher dieser Drang kommt, etwas derartig Widersinniges zu tun.
Und in diesem Moment hatte ich den „Beisszwang“. Ich war kurz davor, mich bis zur Kopfstütze des Vordermannes vorzubeugen, etwas auf die linke Seite, und in weniger als 10 Zentimeter Abstand von seinem Ohr mit einem einzigen riesigen Biss und fürchterlicher Kavitation die Hälfte des restlichen halben Apfels abzubeißen.
Als ich kurz vor dem Zielort aus meiner Sitzreihe herausrutschte und nach vorne ging, um auszusteigen, vermied ich im Vorübergehen jeden Blickkontakt. Sein Körper war zusammengesackt und in beunruhigender Haltung gegen die Fensterscheibe gelehnt. Das sah ich aus dem Augenwinkel. Er muss sich bei diesem letzten Krachen aufgebäumt haben, zusammengesackt und sofort tot gewesen sein.
So muss es gewesen sein, wenn ich tatsächlich zugebissen hätte.
Nachtrag:
Allgemein bekannt ist die Tatsache, dass moderne Schnellzüge sehr gut gegen Fahrgeräusche schallisoliert sind. Das führt dazu, dass in deren Waggons genau die bedrohliche Stille herrscht, die das genussvolle oder auch nur begleitende Essen eines Apfels fast unmöglich macht, es sei denn, man riskiere die oben geschilderten strafrechtlich belangbaren Konsequenzen. In den überfüllten Fernzügen (wie ICE und anderen) ist die Situation aufgrund des Verlustes jeglicher Intimsphäre wegen wildfremder Menschen vor, neben und hinter einem zwiespältig. Auf der einen Seite herrscht ein günstig hoher Geräuschpegel, auf der anderen Seite verbietet sich dort angesichts der Menschenfülle einfach das ungezwungene und gedankenverloren beißende und kauende Apfelessen.
Es bleibt also nur der Regionalexpress. Meist sind die Waggons fast leer und Geräusche gibt es genug. Eine Reise an den Bodensee dauert bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von rund 30 Kilometern pro Stunde (der Regionalexpress hält an jedem Ort, sogar in Kupfermühle zwischen Bad Oldeslohe und Ahrensburg, und wartet bei jeder Gelegenheit auf entgegenkommende und überholende Züge) etwa 30 Stunden, so dass mindestens eine Übernachtung einzuplanen ist.