Mars
2.4.2015
Leben auf dem Mars erscheint vielen Menschen als ein erstrebenswerter Zustand. Demzufolge haben sich hundertausende gemeldet für die Reise zum Mars - ohne Wiederkehr.
Schon seit Beginn der Raumfahrt wird über die Besiedlung von Planeten spekuliert. Waren es am Anfang Abenteurer und Science Fiction Fans, die Gefallen fanden an der Idee, der Erde den Rücken zu kehren, so sind es heute Verzweifelte im Angesicht von Überbevölkerung, Ausbreitung des Verbrechens weltweit, Hungersnöten, Medienstumpfsinn und vielem mehr. Vielen ist eine - zunächst einmal fiktive - Wohnkapsel auf dem Mars lieber als eine Blockwohnung in Neukölln.
Andererseits zieht es auch Idealisten auf den roten Himmelkörper. Einer sagte: "Dort oben ist die klassenlose Gesellschaft - jeder bekommt nur so viel wie er braucht".
Das Projekt "Mars One" startete im Jahr 2013: Inzwischen haben schon mehrere Bewerberauswahlrunden stattgefunden. Ziel ist es, im Jahr 2024 die erste Siedlergruppe (2 Männer, 2 Frauen) auf den Weg zu schicken. Nach acht Monaten Flug soll die Landung auf dem Mars im Jahr 2025 erfolgen. Dieses Pionierteam bleibt nicht alleine. Alle zwei Jahre landet ein neues Team. Alle Teams trainieren das Marsleben unter simulierten Bedingungen auf der Erde und zwar über die kommenden acht Jahre.
Die enormen Kosten dieses Vorhabens sollen durch TV-Lizenzen eingespielt werden. Die niederländische Firma Endemol (Big Brother Camp) hat die Vermarktungsrechte erworben. Das Interesse der gesamten Welt wird sich in rund zehn Jahren auf das Jahrhundertereignis der Marsbesiedlung fokussieren. Man kann damit rechnen, dass die Live-Szenen aus den Mars-Wohnkapseln ein großes Publikum finden werden.
Von den Siedlungsplänen haben natürlich auch die Marsbewohner schon einiges mitbekommen. Seit Jahrhunderten verfolgen sie - mehr gelegentlich als interessiert - die Geschehnisse auf der Erde. In ihren riesigen untermarsianischen Städten gewinnen sie aus dem reichlich vorhandenen Wasser Atemluft und bauen wertvolle mineralstoffhaltige Nahrung an. Eine virtuelle Antenne aus unzähligen Polen, die über die ganze Marsoberfläche reicht, fängt den gesamten elektromagnetischen Verkehr der Erde auf. Mit speziellen Marscomputern werden die Signale ausgewertet. Erst in den letzten zwei Jahren stieg das Interesse an den Erdinfomationen, seit offenkundig wurde, dass Menschen tatsächlich auf den Mars kommen und bleiben wollen. Der oberste Rat vermied bisher den Begriff "Invasion", doch die Angelegenheit wurde in das Monitoringregister aufgenommen.
Zur Kenntnis genommen haben die Marsianer auch, dass die Erde seit Beginn des Jahrtausends Erkundungsfahrzeuge auf den Mars geschickt hat. Diese tun nicht viel, bohren ein bisschen herum, filmen und kommunizieren. Immerhin stieß die Berichterstattung der irdischen Fernsehsender auf Interesse bei den Marsianern, denn dadurch erfuhren sie viel über die Ziele und Ergebnisse dieser Missionen.
Schließlich wurde beschlossen, die Vorgänge näher zu betrachten. Spezielle Marspatrouillen sollten diesem Zweck dienen. Vor langer Zeit hatte es Erkundungen an der Oberfläche gegeben. Doch außer der Tatsache, dass es dort meist sehr kalt ist und fast ständig Sandstürme toben, fand man damals nichts wirklich lebenswertes. Die Landung der Rover war nun der Anlass für ein Inspektionsprogramm.
X[a]t, der Präsident der Marsbevölkerung, leitete die Sitzung des obersten Rates. Die Repräsentanten aller achtzehn Marssektoren waren anwesend. Die Versammlung hatte es sich auf der großen Terrasse des Hilt[a]n-Hotels mit grandiosem Ausblick über den großen Central-Lake und seinen weitläufigen Sandstränden, gesäumt von vielen kleinen Dörfern mit ihren weißen rotbedachten Häusern, bequem gemacht. Hübsche blaue Marsmädchen servierten den schäumigen Prosecco von den Südhängen der Stadt Sur-M[a]rs. Bei ihrem Anblick wurde es dem Präsidenten warm ums Herz und er legte eine Schattierung Blau zu.
Erklärung:
Marsianer sind entgegen landläufiger Meinung nicht grün, sondern blau. Mit zunehmenden Alter verblasst das Blau und erreicht am Ende einen blassbläulichen Ton. Frischgeborene Marskinder sind dunkelblau.
Erfrischt eröffnete X[a]t die Sitzung: "Es ist im Jenseits (das <Jenseits> ist die Marsoberfläche) eine neue Situation entstanden. Wir müssen handeln. Mehrere Roboter kriechen durch unseren Sand. Irgendwann fangen sie an zu bohren. Ich frage euch: Wollen wir Löcher in unserem Firmament haben?" Ernst blickte X[a]t in die Runde. Heftig ablehnendes Gemurmel war die Antwort. Der Präsident hob die Stimme an und deklamierte: "Und dann planen die Erdlinge, ihresgleichen auf unserem Planeten anzusiedeln! Sollen wir das zulassen?" Stimmmengewirr entstand. M[a]rte, der Führer des Sektors 13, in silberner Toga und mit langen schwarzen Haaren, stand auf und rief: "Niemals!". Alle wurden nun marsunüblich aufgeregt und bewegten sich hektisch hin und her und auf und ab.
Doch plötzlich stand der weise M[a]rikh auf. Als Ältester der Versammlung, schon weißblau und in traditionellem schwarzen Kampfanzug mit weißem Marsemblem, griff er mit beruhigender Geste ein. "Liebe M[a]rshmallows (freundliche Anrede von Marsianern): Die Erde ist weit weg und ihre Roboter sind klein, schwach und unbedeutend. Wenn in zehn Jahren ein paar Erdlinge im Jenseits landen, so haben wir nichts zu befürchten. Wie ihr wisst, werden sie niemals zu ihrer Erde zurückkehren und wir können während ihres gesamten Lebens überlegen, was wir mit ihnen machen wollen. Also: keine Panik!"
Einhelliges Seufzen in der Runde. Alle Blicke waren nun erwartungsvoll auf X[a]t gerichtet. "Nun ja", sagte der, "das mag ja so sein. Trotzdem wollen wir auf der Hut sein. Ich schlage vor, wir beschließen das Inspektionsprogramm und reden dann über das Wie, Wo, Wann, Wer." Und so geschah es.
Schnell einigten sich die Ratsmitglieder auf die Beteiligung der jungen Marspioniere. Diese sind üblicherweise im Städtebau, Kanal- und Brückenbau, Katastrophenschutz und Sozialprogramm tätig; sie sind aber auch im Jenseits einsetzbar. Die Wahl fiel auf die Pioniereinheit Purgat in der Bergregion Montana unterhalb des Nordpols. Der dortige Kommandeur sollte beauftragt werden, die fähigsten und talentiertesten Jungpioniere auszusuchen und zu einer Erkundungstruppe zusammenzustellen.
In Capit[a]l, der Hauptstadt von Montana, fand am Tag darauf die Auswahl der besten Purgat-Pionere statt. Marti[a]n, ein junger blaublütiger, oft stürmischer, träumerisch veranlagter Marsianer war jetzt Mitglied der Truppe. Wie die anderen war er noch nie im Jenseits gewesen, doch das Abenteuer lockte. Die Instruktionen waren klar: finde Opportunity und Curiosity (die Mars-Rover), beobachte sie, filme sie, und versuche herauszufinden, was diese so treiben. Das Treiben wurde selbstredend in der Zentrale aufgrund der Filmaufnahmen gedeutet, aber die Aufzeichnungen konnten durch die Beobachtungen vor Ort ergänzt werden.
Marti[a]n rückte als Zweiter aus. Nach der Reise vom Nordpol zum Äquator, dem Sicherheitscheck und der Lageklärung entließ ihn die Portalschleuse auf die Marsoberfläche. Das Erste, was ihn mächtig beeindruckte, waren die gleißende Helligkeit und der tiefschwarze Himmel. Mit offenem Mund staunte er. Und besann sich dann auf seinen Auftrag. Er setzte sich in Bewegung, wobei seine Watschelfüße - Relikte aus dem Zeitalter, in dem der Mars noch auf seiner Oberfläche bewohnt war - hilfreich für das Fortkommen im tiefen Sand waren. Dann nahm er Speed auf. Da lag eine Fläche vor ihm wie sie in den Marsstädten und deren Umgebung einfach nicht vorhanden war. Seine Begeisterung wuchs. Der Horizont war das Ziel. Immer schneller lief er, bis schließlich die kritische Geschwindigkeit erreicht war und ihn geradewegs ins All katapultierte. Marti[a]n hielt die Luft an. Das war eigentlich nicht seine Absicht gewesen. Mit ein wenig Verzweiflung paddelte er im All herum, bis es ihm endlich gelang, wieder Marsboden unter die Füße zu bekommen. Völlig außer Atem blieb er stehen und sah sich um. Dabei fiel ihm wieder sein Auftrag ein.
Soweit das Auge reichte, war nichts zu sehen. Kein fremdartiges Objekt und keinerlei Erscheinungen. Marti[a]n erinnerte sich sehr undeutlich an ein Objekt, das er im Eiltempo passiert hatte, doch zur Identifizierung hatte er natürlich keine Zeit gehabt. So war er wohl - trotz seiner Marsumrundung - gescheitert? Ja, so war es. Kurz vor Einbrechen der Nacht fand er die Schleuse und kehrte zurück zum Stützpunkt.
Die Erkundung des Jenseits war letztendlich trotz derartiger, etwas skurriler Exkursionen erfolgreich. Man hatte die Erdroboter gefunden, inspiziert, ein bißchen angestupst, auch mal umgedreht, nur so zum Spaß, und geschlussfolgert, dass sie harmlos sind.
Der oberste Rat nahm die Berichte entgegen. Es wurde beschlossen, regelmäßig Erkundungen durchzuführen. Der Zeitplan sieht vor, speziell im Jahr 2025 verstärkt zu patrouillieren, nämlich dann, wenn die Erdlinge daran gehen, ihre Hütten aufzubauen. Die Fernsehübertragungen auf der Erde sollen möglichst in Echtzeit in alle Marsianerwohnzimmer übertragen werden. Man verspricht sich davon viel Unterhaltung.
X[a]t grinste bei dieser Überlegung: "Die Erdlinge sind uns willkommen. Das wird eine richtig gute Reality-Show, völlig kostenlos für uns". Und weiter: "Es wird eine Weile dauern, bis sie merken, dass sie die Eintönigkeit nicht aushalten. Irgendwann werden die letzten Überlebenden dann doch abgeholt. Aber bis dahin haben wir viel Spaß".
Hinweis: Marti[a]n ist zu sehen im Videoclip Marti[a]n.
Nachtrag
Vor kurzem, am 20.3.2015, meldete sich Spektrum.de mit einem kritischen Kommentar zur Mission "Mars One". Laut NASA kostet eine bemannte Marsmission gut 100 Milliarden Doller, während "Mars One" gerade mal 6 Milliarden avisiert, die zudem erst einmal per Crowdfunding und Sponsoring eingesammelt werden sollen. Bislang sind nur 0,01 Prozent der Zielsumme gesichert. Außerdem ist die Big Brother Firma Endemol aus dem Projekt ausgestiegen. Weder Antriebstechnik noch Raumkapseln sind in Entwicklung. Im Netz spricht man von Betrug.
Jammerschade! Es könnte sein, dass die Marsianer nicht in den Genuss der Unterhaltung durch die irdischen Siedlungsbemühungen auf ihrem Planeten kommen werden. Bisher hat sich diese Neuigkeit noch nicht in den Marsstädten herumgesprochen, aber das kann nicht mehr lange dauern.
Nachtrag
Aus einem Interview mit Stanislaw Lem:
Ist ein Leben außerhalb der Erde möglich?
Stanislaw Lem:
Das ist schon möglich, aber meines Erachtens ist dies wirklich nicht wünschenswert. Der Mensch eignet sich nur zum Leben auf der irdischen Oberfläche. Solange man sich nicht auf dem Mars befand, konnte man sich noch vorstellen, daß es dort sehr interessante Landschaften gibt. Nein, das ist eintönig, das ist wirklich eine Wüste. Wer wird schon für 10 oder 20 Jahre oder gar für das ganze Leben in der Wüste und dazu noch in einem geschlossenen Gefängnis leben?
Dafür gibt es dann vielleicht die Virtuelle Realität oder die Phantomologie. So ließe sich vielleicht das Leben in einem Gefängnis aushalten.
Stanislaw Lem:
Das ist schon etwas anderes. Aber auch wenn man phantomologisch das Beste zum Essen bekommt, so wird man davon nicht satt.
(Quelle: Telepolis Artikel aus dem Jahr 2006)
Nachtrag
Im März 2015 hatte der Mars-Rover Opportunity, der im Jahr 2004 auf dem Mars mit einer Dreimonatsmission gestartet war, die Marathondistanz von 42 Kilometern zurückgelegt. Er schaffte das in einer Zeit von elf Jahren und zwei Monaten. Diese Leistung wird selbst noch im Jahr 2450 anerkannt und durch die Existenz des Opportunity Territoriums gewürdigt.
Nachtrag 1.9.2016
Der Mars Rover Curiosity, den Marti[a]n bei seiner Marspatrouille erblickt hatte, war im August 2012 auf dem Mars gelandet und ist seither zwecks Erkundung unterwegs. Nun hat Curiosity Entscheidungsfreiheit bekommen. Er kann selbst entscheiden, welches Ziel als nächstes zu untersuchen ist. Seine ChemCam, eine Kombination von Laser und Teleskop, richtet er für die Spektralanalyse von Gestein auf selbst ausgewählte Objekte. Dieses autonome Verhalten ist neu bei Robotermissionen auf anderen Planeten. Dazu die NASA: "The first time autonomous target selection is available for an instrument of this kind on any robotic planetary mission".
Curiosity teilt mit seinem Roboterkollegen Opportunity, der schon seit 2004 auf dem Mars weilt, das Heimweh nach der Erde. Besonders schlimm ist es für Opportunity, dem maximal 90 Arbeitstage auf dem Mars avisiert worden waren. Es sind 12 Jahre daraus geworden. Und doch hat er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, wie die folgende Bildgeschichte zeigt.
Nachtrag 22.2.2019
Mars Rover Opportunity, im Jahr 2004 auf dem Mars gelandet, hat jetzt doch ernsthafte Probleme. Nachdem er fast 15 Jahre lang treue Dienste auf dem staubigen Himmelskörper verrichtete und unzählige Bilder von der Marsoberfläche sendete, scheinen seine Tage endgültig gezählt. Die NASA versucht seit einigen Monaten vergeblich, den Kontakt zu Opportunity herzustellen. Wieder einmal ist der Rover von einem Sandsturm verschlungen worden. Das war schon einige Male passiert, doch jedesmal danach bliesen stetige Winde den Sand wieder von den Solarpanels, so dass die Batterien per Sonnenenergie erneut geladen wurden.
Doch diesmal passiert das nicht, und die "dust cleaning season" geht im Januar zu Ende, sagt Projektmanager John. L. Callas. Und Steven W. Squyres, Principal Investigator, meinte schon vor einiger Zeit: "No matter when the mission ends, I am sure that there will be some tantalizing mystery we would see just beyond reach."
Erst die Marsbewohner der Zukunft werden das Schicksal von Opportunity aufklären können. Vielleicht werden sie den unermüdlichen Rover dann doch noch erleben, wie er unablässig seine Antenne schwenkt auf der Suche nach Signalen von der Erde.
Nachtrag 9.12.2020
NASA Curiosity Rover Plummets 100 Feet Off Martian Crater Edge While Trying To Take Selfie