Jenseitskontakt
22.9.2021
Es gibt wahre Begebenheiten, die unwahrscheinlich erscheinen, aber trotzdem wahr sind. So wahr, dass sie wehtun. Ich möchte euch erzählen, wie es mir ergangen ist, als ich meinen Bruder wiedergefunden habe. Vielleicht fange ich einfach mit dem schrecklichen Ereignis am 24.März im Jahr 2015 an.
Flug 9525 startete an diesem Tag in Barcelona mit Ziel Düsseldorf. An Bord befand sich unter 149 Passagieren mein Bruder Nikki. Der angenehme Flug über das Mittelmeer in Richtung Alpen endete abrupt um 10.41 Uhr. Das Flugzeug zerschellte in einer Höhe von 1550 Metern am Alpenmassiv. Alle Passagiere mitsamt Besatzung waren sofort tot. Die Überreste von Flugzeug und Menschen zerstreuten sich über Kilometer an den Berghängen. Der Grund für den Absturz war die selbstmörderische Tat des Kopiloten, der die Maschine absichtlich in die tödliche Katastrophe gesteuert hatte.
Ich erhielt die Nachricht vom Tod meines Bruders per Telephonanruf der Fluggesellschaft Germanwings am frühen Nachmittag. Ich war gerade von der Schule nach Hause gekommen. Die grausame Botschaft, die ich gleich ernst genommen hatte, ließ mich in eine tiefe Schockstarre fallen. Die Nachrichtensendungen am Abend bestätigten das Unglück. Als ich die Bilder vom Absturzort sah, überkam mich unendliche Trauer, denn mir wurde klar, dass ich Nikki nie wiedersehen würde.
Er hatte mir so viel bedeutet. Nicht nur, dass er immer lustig und zu Späßen aufgelegt aufgelegt gewesen war, er hatte mir auch viel beigebracht. Er malte gerne Bilder, viele davon an der wilden Nordsee, der Gegend um Neuharlingersiel, wo wir wohnten, dem Hafen und den Schafen hinterm Deich. Auch von mir, was mir sehr schmeichelte damals. Manchmal saß ich mit ihm auf dem Deich mit Blick auf die weite, weißschäumende Nordsee. Er stand vor seiner Staffelei, groß, schlaksig und vornüber gebeugt, die langen Haare im Gesicht, konzentriert und stumm. Ich bewunderte Nikki immer, wenn er künstlerisch tätig war. Meine eigenen Versuche waren bescheiden, aber Nikki vergaß nie, jede meiner Arbeiten zu kommentieren und mir gute Ratschläge zu geben. Er war es auch, der mich von den Wasserfarben zu den Ölfarben und dann den Acrylfarben brachte.
Vor sieben Jahren ging Nikki nach Barcelona, um dort an der Kunstakademie zu studieren. Seiner Bewerbung waren eigene Zeichnungen und Bilder unterlegt, die er schon auf diversen Ausstellungen vorgestellt hatte. Ich hatte ihn damals zum Flughafen im Hamburg begleitet und ihm am Gate zum Abschied zugewinkt, ohne zu ahnen, dass das ein Abschied für immer war.
Nikki hatte mein frühes Leben so stark in Richtung Kunst beeinflusst, dass ich nach der Schule eine Ausbildung zur Graphikdesignerin begann. Vor einem Jahr wechselte ich an die Hochschule Hamburg und schrieb mich in den Medienstudiengang "Next Media" ein. Noch bin ich dabei, herauszufinden, was die Next Media eigentlich sind. Es ist viel Computerzeugs, aber ich kann meine Zeichnungen in den meisten Fällen als Grundlage für die Weiterverarbeitung mit Bezug zur Werbegraphik hernehmen.
In den letzten Monaten kam mir immer wieder mein verstorbener Bruder in den Sinn. Einige seiner Landschaftsbilder hängen in meinem Arbeitszimmer und erinnern mich an die schöne Zeit mit ihm und an unsere Heimat. In letzter Zeit wurde ich zunehmend schwermütig und sehr traurig. Seine Kommentare und sein Zuspruch fehlen mir bei meinen Arbeiten. Wie sehr wünsche ich mir ein paar aufmunternde Worte vom "großen Künstler" an seine "kleine Schwester". Wenn ich ihm nur irgendwie näher kommen könnte.
Allmählich mündete meine Schwermut in eine Depression, das spürte ich ganz genau. Einher ging eine zunehmende Antriebslosigkeit bis ich nur noch dahintrieb. Abends zappte ich ohne Interesse durch die Fernsehkanäle . Vorgestern stieß ich dabei auf den Astro-TV-Kanal. Man kann dort anrufen und sich beraten lassen. Ich schaute mir die Gespräche eine Weile an, bis mir auffiel, dass bei der Moderatorin Iris in der Zeile mit den Beratungsangeboten der Punkt "Jenseitskontakt" aufgeführt war.
Ich war ganz starr und studierte die Beschriftung "Jenseitskontakt" immer wieder. Auf einmal kam mir Nikki in den Sinn und eine Welle der Hoffnung durchströmte mich. War es nicht so, dass Nikki doch irgendwie weiterlebte, irgendwo im "Jenseits"? War es vielleicht möglich ...?
Am nächsten Abend, also gestern, fasste ich meinen ganzen Mut zusammen und rief bei Astro-TV an. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich jemand meldete. Ich bat darum, mit Iris sprechen zu dürfen. "Einen Moment bitte". Auf dem Fernsehbildschirm sah ich Iris, und da klingelte ihr Telephon. Mein Anruf. Sie sprach ihren Begrüßungstext und lächelte mir zu. Ich war einen Moment lang total platt. Sie sprach zu mir! Ich sagte Hallo, ohne mich auf dem TV-Set selbst zu hören: Ich hatte eine anonyme Beratung gewählt. Aber alles, was Iris sagte, war zu hören für hunderte von Zuschauerinnen.
Iris: "Wie kann ich dich beraten, Melanie?" (Ich hatte einen falschen Namen angegeben).
Ich: "Ich hätte gerne einen Jenseitskontakt!"
"Du hast Verwandte im Jenseits?"
"Ich weiß nicht. Vielleicht. Mein Bruder ist verstorben."
"Oh ja, liebe Melanie, alle, die von uns gegangen sind, sind im Jenseits. Aber ich muss dir gleich sagen, ich kann niemanden dort so einfach ansprechen."
"Mein Bruder heißt Nikki. Vielleicht hilft der Name?"
"Okay, gib mir etwas Zeit, um die Verbindung herzustellen."
Iris vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen und verharrt eine Minute lang regungslos. Sie sondiert mit ihren Gedanken im Jenseits. Langsam richtet sie sich auf, die Augen sind geschlossen.
"Ich fühle Personen, ich höre Stimmen, ganz leise. Oh ja, warte, da ist jemand."
"Ja?"
"Sei still, störe mich nicht!"
"Er spricht. Schwer zu verstehen. Stockend. Vielleicht ist dies sein erster Kontakt mit unserer Welt."
"Bitte sagen Sie ihm meinen Namen: Joelina. Und 'Flugzeug'."
"Ja - jetzt verstehe ich etwas. Er sagt, so lange allein, nur wenig Licht, und dann - ist da Joe?"
"Ja! Das bin ich."
"Ich habe es ihm schon gesagt."
"Bitte sagen Sie ihm, dass es mir gut geht und dass ich jetzt in Hamburg lebe."
Eine Stille tritt ein, in der Iris die Angaben telepathisch ins Jenseits schickt. Dann ein Aufschrecken. Iris mit weit geöffneten Augen:
"Oh, er sagte ganz schrecklich laut 'Joe, mein Schwesterherz, bist du es?'
"Nikki, Nikki, ich bin es!"
"Melanie, ganz ruhig, er kann dich nicht hören, nur meine Gedanken lesen. Ich habe ihm gerade mitgeteilt, dass du immer an ihn denkst. Und dass du ihn liebst!"
"Mein Gott, ich halte das nicht aus. Es ist mein Bruder, er spricht mit mir."
"Er sagte gerade 'Meine liebe Joe, ich danke dir so sehr! So schöne Erinnerungen'."
Joelina weint.
"Bitte, wie geht es ihm. Wie lebt er?"
"Ich sehe ihn unter mehreren Wesen in langsamer Bewegung. Die Sicht ist undeutlich. Er blickt nach oben, von dort empfängt er meine Gedanken. Er lächelt."
"Oh mein Gott!" (Joelina bricht zusammen).
Der Telephonkontakt ist unterbrochen.
Iris sagt in die Kamera: "Liebe Melanie - wir sind jetzt getrennt, aber ich wünsche dir gute Erinnerungen an dein Zusammentreffen mit deinem Bruderherz. Alles Gute meine Liebe!".
"Ja hallo, wer ist am Telephon? ..."
Die ganze Nacht habe ich geheult. Nikki ist nicht tot. Er hat zu mir gesprochen! Ich bin völlig durcheinander, kann mich auf nichts konzentrieren. Sieben Jahre lang war ich ohne ihn. Und jetzt ist er wieder bei mir, in meinen Gedanken und Gefühlen. Jetzt wird alles besser! Erst mal frühstücken. Beim ersten Schluck Tee blickte ich auf das Bild an der Wand, das den Nordseestrand in unserer Heimat zeigt und mich zurückversetzte in die Zeit, als wir noch zusammen waren.
Quellen:
Nikkis Stimme aus dem Jenseits anhören: