Gleis 3
21.8.2003
Züge fahren auf Schienen (trains run on tracks). Diese Binsenweisheit ist nicht so tief im Bewußtsein des Menschen verankert wie man annehmen möchte. Es gibt höhere Einsichten. Dazu gehören sicherlich die Erkenntnisse, die ein Fahrplan vermittelt.
Am Bahnhof von Bad Schwartau führen vier Gleise vorbei, von denen nur drei befahren werden. Gleis 1 ist am Hauptbahnsteig am Bahnhofsgebäude gelegen, Gleis 2 hat keinen Bahnsteig – hier rast der Schnellzug von Hamburg nach Puttgarden entlang, Gleise 3 und 4 teilen sich einen Bahnsteig, der durch einen Tunnel unter den Gleisen 1 bis 3 erreichbar ist. Der rostige Zustand von Gleis 4 lässt erkennen, dass dort keine Züge fahren. Es handelt sich also um eine ganz gewöhnliche Anordnung, die jedem Reisenden ohne weiteres vertraut ist.
Gleis 3, an dem ich pro Jahr mehr als 18 Stunden auf den Regionalexpress nach Neustadt warte, wurde kürzlich neu aufgebaut. Dazu entnahm man die Schienen mitsamt Bohlen auf einer Länge von rund 400 Metern zentral im Bahnhofsbereich. Es bot sich somit der Anblick einer welligen Schotterpiste, wobei die Wellentäler als negativer Eindruck der entfernten Gleisbohlen imponierten.
Reisende, die auf den Regionalexpress nach Neustadt warten, stellen sich an Gleis 3, Gleis 4 im Rücken. Der Fahrplan weist Gleis 3 aus für den Zug nach Neustadt; es ist also nicht verkehrt, sich an Gleis 3 zu stellen und auf den Zug zu warten, unter der stillschweigenden Annahme allerdings, dass ausgerechnet der Zug nach Neustadt keine Schienen benötigt.
Am dritten Tag des Umbaus erst registrierte ich, dass sich die meisten der gewöhnlicherweise zwei bis zehn Reisenden an Gleis 3 aufstellten, um auf einen zu Zug zu warten, der sich schienenlos fortbewegt, und sich erst dann zögernd Gleis 4 zuwandten, sobald offensichtlich wurde, dass der sich langsam nähernde Regionalexpress keinerlei Anstalten machte, auf Gleis 3 einzufahren, sondern unmissverständlich Gleis 4 für seinen Halt auswählte; eine Wahl, die übrigens vorher per Lautsprecher angekündigt worden war.
Eine ältere Frau, verwirrt durch die Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit, wandte sich einmal in dieser Situation an mich und fragte „wo ist Gleis 4 ?“. Ich deutete stumm auf den rostigen Schienenstrang.
Durch Introspektion und retrospektive Fernbeobachtung stellte ich fest, dass ich mich an den ersten beiden Tagen des Umbaus wie die anderen Reisenden verhalten hatte. Die Macht der Gewohnheit und eine kaum fassbare Ignoranz gegenüber der Außenwelt machten mich wie so oft zum Jedermann.
Ich denke, „Gleis 3“ kann als Synonym für das modellhafte Sehen der Welt stehen – mit der offenkundigen Schwierigkeit, ein Modell an die Realität anzupassen. Oder einfach für Dummheit.
Nachtrag:
Es fiel mir heute auf, dass die Sitzbank auf dem Bahnsteig zwischen den Gleisen 3 und 4 Gleis 3 zugewandt ist, so dass der ruhebedürftige Reisende keine andere Wahl hat, als sich mit einer Schotterpiste alias Schienenweg zu konfrontieren. Außerdem fiel mir ein, dass eine Baustelle in ansonsten sehr gewöhnlicher Umgebung die Aufmerksamkeit Müßiger, in diesem Fall Wartender, wohl automatisch auf sich zieht, ganz unabhängig davon, ob ein Zug vorbeifahren könnte oder nicht (ersteres im erschwerten Sinn).
Beide Überlegungen führen nun zu einer Revision meiner Schlussfolgerungen. Kann es sein, dass mein Modell vom Menschen nicht kompatibel ist mit der Realität ?