Der Öko-Pilot
23.10.2021
Die Fluggesellschaft Air France ist ganz vorne bei öko, wie aus der abgebildeten Zeitungsmeldung zu ersehen ist. Die Erneuerung der Flotte wird nicht nur die CO2 Emission senken, sondern als Besonderheit auch von Öko-Piloten geflogen werden.
Noch sind die Öko-Piloten in der Ausbildung. Für sie wurde das neue Ausbildungszentrum in Le Havre gebaut. Hier genießen die angehenden Piloten eine ganzheitliche Ausbildung, denn es geht um mehr als nur Fliegen.
Die Chefin der Pilotenausbildung ist Ragnheiður Snæbjörnsdóttir. Aufgewachsen in Island hat sie die Bedeutung der ökologischen Energiegewinnung verinnerlicht, denn heiße Quellen gibt es dort überall. Ihren Vater durfte sie auf Patroullienflügen über den 200 Kilometer weiten Vatnajökulsþjóðgarður (Naturpark) begleiten, von daher kennt sie auch das Fliegen. Und so kam es, dass ihr die Ausbildung der Air France Öko-Piloten übertragen wurde.
Das Ausbildungs- und Trainingszentrum in Le Havre ist großzügig angelegt mit mehreren Flugsimulatoren, Cafeteria, Aufenthalts- und Spielräumen, Gym, Pool, Hotelzimmern, und medizinischem Bereich. Zur Zeit sind dort 85 Flight Trainees untergebracht. Ihr Programm dauert 12 Wochen und ist in mehrere Abschnitte unterteilt. Da hier zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte (!) Öko-Piloten ausgebildet werden, liegt der Schulungsschwerpunkt natürlich auf öko. Nur ein Beispiel: Noch vor dem Landeanflug und der Landung wird Erdbeobachtung trainiert.
Erdbeobachtung während des Flugs ist insofern wichtig, als sie mehr Informationen, vor allem menschliche, an die Bodenstation übermittelt als es bloße Satelliten tun. Kommentare wie "Das sieht ja schrecklich aus da unten!" vermitteln einen ganz anderen Eindruck als Satellitenbilder von roten Wüsten und schmelzenden Gletschern. Eine ganz wichtige Aufgabe ist unter vielen anderen die Müllbeobachtung. Hier erreichen Meldungen wie "Das ist ja total vermüllt da unten" die Erde. Was das genau heißt, übermitteln die photographischen Aufnahmen, die die Öko-Piloten jederzeit direkt aus dem Cockpit machen können.
So werden die Air-France Öko-Piloten hoch oben am Himmel das personifizierte Gewissen einer sterbenden Welt.
Bewerbungen kommen aus aller Welt. Erwähnenswert ist Gilmore Jefferson aus Kanada. Mit 18 Jahren gehört er zu den jüngeren Aspiranten und stammt aus Ottawa. Die Ferien verbrachte er bisher im Algonquin Park als Hilfs-Ranger. Dort durfte er die Grizzly-Bären betreuen, was als Öko-Grundausbildung gewertet werden kann. Beim Bewerbungsgespräch in der Air France Vertretung in Ottawa gab er außerdem an, des öfteren von den weißen Kondensstreifen am blauen Himmel über dem Naturpark irritiert gewesen zu sein, denn seiner Meinung nach konnten diese keinen natürlichen Ursprung haben und gehörten deswegen dort nicht hin.
Der Aufnahmetest ist im Wesentlichen eine Eignungsprüfung. Die Frage ist: "Ist der Kandidat geeignet für eine Karriere als Öko-Pilot?". Da spielen psychologische Faktoren eine große Rolle. Hier setzt die Beobachtung der Kandidaten an. Der Gemeinschaftssinn wird in verschiedensten Szenarien untersucht. Auch der Umgang mit den anderen Aspiranten und Aspirantinnen wird registriert und klassifiziert.
Gilmore war bald recht beliebt in der Gemeinschaft zukünftiger Öko-Piloten. Er konnte gut Witze erzählen und schilderte gerne gestenreich seinen Umgang mit den jungen Grizzly-Bären. Das fanden alle interessant. Und Gilmore fand die Kollegin aus Montreal interessant. Sie war nicht nur hübsch, sondern auch sehr lebendig. Sie war es, die Gilmores bärige Pantominen nachäffte und mit ausgestreckten Armen wie mit Tragflächen Flugbewegungen ausführte. "Fly me fly by ... Jefferson ... like a bird - no like an airplane ... Airplane - Jefferson Airplane" rief sie lachend bei ihren Kreisbewegungen rund um Gilmore. Der war begeistert. Von da an hingen die beiden überall zusammen. Und Gilmore hatte seinen Spitznamen weg: Jefferson Airplane.
Auf ganz anderen Ebenen bewegten sich die Gedanken von Ragnheiður Snæbjörnsdóttir. Durchdrungen von ihrer Mission, die ersten und besten Öko-Piloten der Welt hervorzubringen, stellte sie den wöchentlichen Speiseplan in der Kantine zusammen. Sie legte großen Wert darauf, jeden Tag andere vegane Gerichte anzubieten, um keine Eintönigkeit aufkommen zu lassen. Als einzige Ausnahme ließ sie die Currywurst zu. Später, im Verlauf der Untersuchungen und Befragungen zum Fall Gilmore Jefferson, gab sie zu, die Currywurst als Testfall, quasi als Versuchung in den Speiseplan aufgenommen zu haben.
Unterdessen ging die Ausbildung weiter. Gilmore übte fleißig im Flugsimulator. Er wollte gerne die ganz großen Brummer fliegen, deshalb legte er meistens das Boeing 737-800-Programm auf. Damit flog er die langen Routen über den Atlantik, immer über den Wolken, die durchaus die Bewertung "öko" verdienten, befand Gilmore. Was er jedoch nicht wußte: er war ertappt worden, wie er vor dem Flug um die Mittagszeit eine Currywurst in der Kantine gegessen hatte. Im Boden des Pappbechers hatte Ragnheiður Snæbjörnsdóttir eine GPS-Tracking-Sonde einbauen lassen. Diese legte eine Spur vom Tresen bis zu Gilmores Sitzplatz und die Überwachungskameras bestätigten, dass Gilmore mit der Gabel aus nachhaltigem Holz einzelne Currywurststücke zum Munde führte. Die Chefin notierte 5 Minuspunkte in Gilmores Akte, denn eine Currywurst stößt gewaltige Mengen CO2 aus. Ganz klar war, dass Öko-Piloten nicht nur öko, sondern durch und durch öko sein mussten! Zunächst sollte dies keine Konsequenzen für den noch jungen Piloten haben. Doch schon eine zweite Currywurst konnte ein Flugverbot nach sich ziehen.
Nach der Ausbildung ging es ans Fliegen. Für Gilmore ging ein Traum in Erfüllung, als er schon beim dritten Flug die mächtige Boeing-737-800 von Amsterdam Schiphol nach New York LaGuardia fliegen durfte. Als es soweit war, vergaß Gilmore nicht, sein Lieblingsgericht, eine frisch gebratene, gut gewürzte Currywurst in seinem Handgepäck zu verstauen, denn er mochte das Essen an Bord nicht.
Der Start klappte problemlos. Schnell erreichte die Boeing ihre Flughöhe über den Wolken. Wunderbar! Wie im Simulator. Eigentlich war die Wirklichkeit nur eine Simulation, sagte sich Gilmore, denn das Schütteln, das gelegentliche abrupte Absacken, die Vibrationen, das Motorendröhnen kannte er zur Genüge. Auch der Blick nach draußen war ihm vertraut. Doch heute schien die Sonne brillant auf die Wolkenfomationen, was ihn nun zu seinem Leckerbissen greifen ließ. Das Flugzeug übergab er dem Auto-Piloten und widmete sich fortan seiner Currywurst. Der erste Bissen - himmlisch, wie sein Ausblick. Alles passte zusammen. Bis der Lautsprecher anging und der Flughafen-Tower Dublin sich meldete.
"Alles okay da oben, Flug KL0641?". Gilmore erschrak so sehr, dass ihm der Pappteller mitsamt Currywurst aus der Hand rutschte und sich unaufhaltsam Richtung Steuerhorn bewegte. Dort vergruben sich Pappteller, Wurst und Gabel zwischen den Gas- und Schubhebeln. Gilmore bekam von diesem Malheur zunächst gar nichts mit, denn er musste sich auf das Gespräch mit dem Tower konzentrieren.
Zunächst flog alles weiter wie bisher. Gilmore suchte eine Zeitlang nach seiner Wurst, aber als er eine Ketchup-Spur am Schubhebel entdeckte und mutmaßte, dass sich die Wurst wohl am Ende der Spur befinde, versuchte er, diese zu ertasten - vergeblich. Er gab auf. Appetit hatte er eh keinen mehr. Irgendwann fiel ihm auf, dass das Flugzeug an Höhe verlor. Anscheinend hatte der Auto-Pilot auf Sinkflug geschaltet. Gilmore war sofort klar, dass das nicht in Ordnung war. Er schaltete auf Handsteuerung, aber nichts änderte sich.
Die Erklärung lieferten die späteren Untersuchungen. Am Schubhebel-Sockel, genau dort, wo Gilmores Currywurst eingeklemmt steckte, drückte diese die Gabel gegen einen Kontakt, der die Bezeichnung "Flight-Reset" trägt. Im Status-Display wurde zwar die Meldung "Flight-Reset active" angezeigt und durch die Frage ergänzt "Undo Reset?", doch der frischgebackene Öko-Pilot nahm diese Hinweise gar nicht wahr. Warum Gilmore keine adäquate Reaktion zustande gebracht hatte, erklärten die Ermittlungen.
Auf der Flugschule gibt es im Abschnitt "Instrumentenkunde" den Kurs "Significance and Handling of Flight Conditions", in dem unter anderem der Flight Reset behandelt wird. Unglücklicherweise hatte sich Gilmore nicht zu diesem Kurs eingetragen, sondern zum parallel laufenden Kurs "Farming Salad for Your Own Supply" in Anlehnung an das populäre Indoor-Farming, einem wichtigen Konzept für Öko-Piloten. Er hatte wohl die fixe Idee, Salat onboard (cockpit-borne) zu erzeugen. Man fand in seinem Zimmer die dafür benötigten Utensilien wie Behälter, Wasserleitungen, Pumpen, Nährlösung, Beleuchtung - als Baukasten für eine kleine Anlage. Ragnheiður Snæbjörnsdóttir nickte anerkennend, als sie den Bericht las. Jefferson war also tatsächlich durch und durch öko (gewesen).
So nahm das Schicksal seinen Lauf. Dreißig Minuten nach dem Kontakt mit dem Tower in Dublin stürzte die Boeing 737-800 in den Nord Atlantik westlich von Irland (Koord. 54.532420,-13.455989). Man hatte das nicht abwehren können, denn Gilmore verstand unter dem wachsenden Stress nicht, was er laut Anweisungen tun sollte.
Und so wurde letztendlich die Currywurst zum Verhängnis für den Öko-Piloten Jefferson Airplane.