Schöne Aussicht

2.11.2020

Der Blick ist einmalig. Italien und Griechenland unter uns, das Mittelmeer blitzt in der aufgehenden Sonne. Wie damals, als nach einer Nacht auf dem Meer voller Gewitter mit einer Blitzorgie in allen Richtungen die Sonne den Spuk im Morgengrauen vertrieb. Von hier oben betrachtet sieht alles sehr friedlich aus - und wunderschön. Der blaue Planet ist einmalig im leeren schwarzen Weltall.

Und dazu die Mikrogravitation. Mit der fast vollständig fehlenden Schwerkraft schwindet auch das irdische Gefühl, abnehmen zu müssen. Gewichtsprobleme gibt's bei uns nicht. Munter wie ein Fisch schwimmen wir von Bullauge zu Bullauge. Alle 90 Minuten geht die Sonne auf. Wichtig ist, dass die Luft, in der wir schwimmen, ständig bewegt wird, denn bei Stillstand sammelt sich das ausgeatmete Kohlendioxid um den Kopf herum und man erstickt.

Kate Rubins

Wir sind die derzeitige Besatzung der Internationalen Raumstation (International Space Station, ISS): Kate Rubins (das bin ich), Sergey Kud-Sverchkov, Sergey Ryzhikov. Wir umkreisen die Erde in 400 Kilometern Höhe und machen dabei Experimente. Am lustigsten ist es, wenn wir die Mäuse loslassen. Sie rudern hilflos in der Luft herum, kommen aber nicht vorwärts. Man kann ihnen einen Schubs geben. Dann fliegen sie gegen die Wandung der Raumkapsel und klammern sich frenetisch an irgendwelchen Kabeln fest. Man erkennt ganz deutlich, dass Mäuse im Laufe ihrer Evolution keine Bekanntschaft mit der Schwerelosigkeit gemacht haben, wie auch die Menschen. Was machen wir noch? Jede Menge DNA-Analysen, um mögliche Veränderungen festzustellen.

Heute vor genau 20 Jahren begann alles.

 

1998 begann der Bau der ISS. Bauteile wurden mit dem Space Shuttle hochgebracht und von Astronauten montiert. Damals waren es drei bewohnbare Module, heute sechzehn. Ein Amerikaner und zwei Russen waren die erste ISS-Besatzung: Yuri Gidzenko, Sergei Krikalev, William Shepherd. Sie zogen am 2. November 2000 ein und blieben für viereinhalb Monate. Seither ist die Station ständig besetzt. Arbeiten und Veränderungen an der Raumstation sowie die jeweiligen Bewohner sind minutiös entlang einer Zeitlinie aufgezeichnet [1].

Am Anfang stand die Idee von der Überwindung des Kalten Krieges zwischen den U.S.A. und Russland durch den gemeinsamen Aufbau und den Betrieb der Raumstation. Das erste Modul mit dem Namen Zarya brachten die Russen in den Weltraum. Darauf sandten die Amerikaner das Modul Unity und danach (zwei Jahre später) noch einmal die Russen das Modul Zvezda. Das war die Grundkonfiguration der ISS. Über die Jahre wurde die ISS immer weiter ausgebaut. Der Austausch der Besatzungen erfolgte mit Raumfähren-Missionen, abwechselnd mit Space-Shuttles und Soyuz-Raketen. Nach der Columbia-Space-Shuttle Katastrophe im Jahr 2003 stoppten die Space-Shuttle-Missionen. Erst im Jahr 2005 wurden diese wieder aufgenommen und waren aktiv bis zum Ende des Space-Shuttle Programms im Jahr 2011. Danach wurde die Raumstation ausschließlich von Soyuz-Raketen versorgt.

Die Zahlen zur ISS sind beeindruckend [3]: 243 Astronauten aus 19 Ländern arbeiteten auf der Station und führten dort über 3000 Experimente durch.Doch der Preis war hoch. Die Baukosten von 150 Milliarden Dollar sind im laufenden Betrieb auf eine Gesamtsumme von 250 Milliarden Dollar angestiegen. Angesichts dieser horrenden Kosten gab es und gibt es kritische Stimmen. “I would certainly rate the ISS as not worth a 12-figure sum,” sagt der UK Astronomer Royal, der Astrophysiker Lord Rees von Ludlow. “None of the hundreds of people circling around in the International Space Station have done any worthwhile science sufficient to justify even a tiny fraction of the money the Shuttle and space station have cost us.” Man solle das Geld lieber in Robotermissionen stecken, einschließlich der unbemannten Mond- und Mars- sowie interstellaren Missionen.

Zarya, das erste (russische) Modul der ISS verbindet sich mit
dem amerikanischen Unity Modul (vorne) im Jahr 1998

“If we ask how newsworthy [the ISS] has proved, there’s been far more news from Hubble and missions to Mars, Jupiter and Saturn than there has from the space station,” sagt Rees. “The space station makes the news when Chris Hadfield sings or when the toilet doesn't work, I think it's increasingly hard to justify spending public money on sending humans into space in future.”

Linda Billings, Forscherin am National Institute of Aerospace, schrieb ein Buch mit dem Titel "Should Humans Colonise Other Planets? No." und stellte die Frage: "How does human space exploration benefit all the people in Bangladesh and India who depend on water for their livelihood?" (Die Killerfrage). Die bemannte Raumfahrt wird zunehmend in Frage gestellt. Diese Tendenz könnte sich noch weiter verstärken, wenn sich die Erkenntnis durchsetzen würde, dass der Mensch nie andere, möglicherweise bewohnbare Planeten erreichen wird, so wie im Aufsatz Hamahabaii beschrieben.

Andererseits, wo bleibt da der Spaß? Zum 20-jährigen Jubiläum der ISS hat Kate Rubins ein Feuerwerk vorbereitet. Selbstverständlich darf sie dieses in der Station nicht zünden, aber sie entfacht den Festtagszauber virtuell. Zusätzlich hat sie ein neues Experiment vorbereitet. Sie bringt ihre drei Lieblingsmäuse in Stellung und wirft ihnen einen schmackhaften Käsebrocken zu. Keine der Mäuse ist in der Lage, die Köstlichkeit zu schnappen. Alle drei haben sie mit einer parabolischen Flugbahn gerechnet, die es in der Schwerelosigkeit jedoch nicht gibt. Kate triumphierend: "Das beweist doch eindeutig, dass Mäuse nie im Weltraum gewesen sind!".


Quellen:

[1] https://www.nytimes.com/interactive/2020/11/02/science/iss-20th-anniversary-timeline.html
[2] https://www.nytimes.com/2020/11/02/science/international-space-station-20-anniversary.html
[3] https://www.bbc.com/future/article/20201030-should-astronauts-abandon-the-space-station
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Raumstation