Utopia

29.4.2019

Die Probleme der Welt sind lösbar. Der Plan der Gutbürger, die die Regierung stellen, sieht das Jahr 2050 vor als die Ziellinie, ab der es keine Stickoxide und keine Demonstrationen der Wutbürger mehr geben wird auf der Erdoberfläche.

Das Kernelement des Projekts "Neue Erde" ist die Verbannung fossiler Energieerzeugung in den Untergrund, wobei es dann allerdings nur noch einen Strom geben wird, nämlich den Atomstrom. Es ist vorgesehen, das größte jemals gebaute Atomkraftwerk in zwei Kilometern Tiefe zu errichten. Die Leistung wird so hoch sein, dass alle Gutbürger mit Energie versorgt sein werden. Immer wenn Wind, Sonne, und Wasserkraft auf der Erdoberfläche einen Energieüberschuss produzieren, kann Atomenergie für die Bevölkerung unter der Erde abgezweigt werden.

Die Umsiedlung der Wutbürger in den Untergrund folgt einem festen Plan. Mit ihnen gehen auch sämtlichen Industrien unter die Erde. An der Erdoberfläche bleiben jedoch die guten Gewerbe wie die Honiggewinnung und die Apfelplantagen. Der Anspruch der Gutbürger ist selbstverständlich die Selbstversorgung mit Agrargütern vielfältiger Natur. Plastik gibt es keines mehr. Selbst die Frisbeescheiben sind aus Karton. Die Gutkinder kommen damit gut zurecht. Und wenn so ein runder und flacher Karton kaputt geht, dann gibt es reichlich Nachschub von "Da Unten".

Utopia
Utopia

So ist bald das perfekte Gleichgewicht zwischen denen DA OBEN und denen DA UNTEN erreicht. Die DA UNTEN produzieren alle notwendigen Güter, von Rock und Hose bis zum Kühlschrank. Es gibt kaum Engpässe, denn Millionen und Milliarden von Wutbürgern schuften Tag und Nacht für den stetigen Fluss der Güter nach DA OBEN, aber auch für den eigenen Gebrauch. Als Gegenleistung gibt es von den Gutbürgern Kulturartikel wie Filme. Sie zeigen den Wutbürgern in beispielloser Weise, wie das gute Leben ist. Es gibt auch bösartige Filme, in denen die Bösen immer von DA UNTEN kommen. Es geht von ihnen eine gewisse Faszination aus. Besonders die Gutbürger, situiert zwischen Rapsfeldern und Windrädern, ergötzen sich gerne am Bösen. Das ist ein risikoloses Vergnügen, denn das Böse ist und bleibt im Untergrund.

Es gab jedoch einen Vorfall Anfang der 50er Jahre, als Jennifer Rose aus gutbürgerlichem Hause der Serie "Die schreckliche Familie Hackepeter" verfiel. Nicht nur floss in jeder Sendung reichlich Blut (DA UNTEN wohlgemerkt), es trat als Protagonist der junge, starke, schöne und schonungslose Drobovik Hackepeter auf. Seine Spezialität war es damals, junge Mädchen vom Bösen zu erretten. Das war ganz im Sinne Jennifers und sie beschloss, Drobovik im Untergrund zu besuchen.

Damals wie heute war und ist es nicht leicht, in den Untergrund zu gelangen. Die Zugänge werden streng kontrolliert. Personen müssen einen Berechtigungsausweis vorlegen. Da Jennifer nie einen bekommen hätte, suchte sie einen weniger kontrollierten Weg. Den fand sie am Rand der Stadt bei den Entsorgungsbetrieben. Von dort wird der gesamte Müll nach DA UNTEN gebracht. In einem unbeobachteten Moment kletterte sie in einen der Altkleidercontainer und machte es sich darin bequem. Es roch zwar unangenehm muffig, aber sie fühlte sich sicher, denn Müllcontainer würden doch wohl nicht durchleuchtet. So ist es, und sie gelangte unbeschadet zum Verteilerzentrum in der Station U13. Zwischen Müllbergen und Schutthalden schlängelte sie sich ins Freie und sah sich zum ersten mal in ihrem Leben im Untergrund um. In der Schule hatte sie gelernt, dass die Wutbürger immer wütend sind und die meisten böse, und sie fürchtete sich. Außerdem stimmte das Licht nicht. Nicht die Sonne hing am Himmel, sondern ein fahles gelbliches Leuchten erhellte die Gegend.

Jennifer wußte wirklich nicht, wo sie war. Da sie aber unbedingt irgendwo hin wollte, winkte sie einem Fahrzeug zu, das die Straße entlangkam. Der grün lackierte Diesel-Transporter hielt an und der Fahrer öffnete ihr die Tür. Jennifer war zunächst misstrauisch, denn der Fahrer war unrasiert, lächelte ihr aber freundlich zu. Also rutschte sie auf den Beifahrersitz mit der festen Absicht, jede Gefahr bestehen zu wollen. "Na, Frollein, wo soll's hingehen?". Das musste die Untergrundsprache sein, fuhr es Jennifer durch den Kopf. So direkt und unvermittelt. Mutig sagte sie, einer spontanen Eingebung folgend: "Zum Filmzentrum - bitte!".

Der Fahrer fuhr los, musterte Jennifer von der Seite - nein, sie war nicht von hier, vielleicht von DA OBEN?, so sauber und blond, mit zwei akkurat geflochtenen Zöpfen - und sagte: "Zu den Universal Studios? Da fahre ich gerade hin" - "Oh ja, bitte". Das klang gut, denn sie kannte die Universal Studios aus dem Vorspann zu den Filmen der Hackepeter-Serie. Während der Fahrt fasste sich Jennifer einmal ein Herz und fragte: "Sind sie wütend?", denn das war zu erwarten. "Aber ja", war die wütende Antwort. "Denn heute Abend verpasse ich die Demonstration!". Aha, dachte Jennifer, bestimmt die Wutbürger-Demonstration. Das hatte sie im Nebenfach "Untergrund-Soziologie" gelernt. Eifrig stellte sie weitere Fragen, denn sie wollte unbedingt herausfinden, ob die Wutbürger eigentlich immer wütend sind oder nur ab und zu. Bis sie vor dem großen gläsernen Eingangsportal des riesigen mattschwarzen Universal-Gebäudes anhielten.

In der weitläufigen Eingangshalle eilte sie zielstrebig zum Reception Desk, wo die glänzend schwarz gekleidete, freundlich blickende Empfangsdame auf sie wartete. "Wie kann ich dir helfen?", fragte sie. Jennifer antwortete, nunmehr schüchtern, mit: "Ich möchte gerne zu den Studios von Drobovik. Ist er denn da?". Ihre Augen leuchteten dabei so hoffnungsvoll, dass ihr Gegenüber nicht anders konnte, als eine ehrliche Antwort zu geben, denn irgendwie kam ihr das neue Mädchen wie eine von DA OBEN vor. Das und Droboviks Vorliebe für die blonden Mädchen aus der Gutwelt ließen sie spontan sagen:" Komm mit. Ich bringe dich hin - du kannst mich Gamma nennen."

Der Aufzug brachte die beiden schnell in den 8. Stock. Gamma schritt voran durch lange bunte und hell beleuchtet Gänge, vorbei an unzähligen Studios und Werkstätten. Schließlich kamen sie in einen riesigen Saal voller Menschen, Schauspielern, Komparsen, Kamerafrauen, Bühnenbildnern, Makeup-Spezialistinnen und einem Ziegenbock. Und da erblickte Jennifer ihren Helden: Drobovik. Er saß auf einem Regiestuhl etwas abseits, gekleidet im aus Funk und Fernsehen bekannten schwarzsilbernen Dress, dazu rotes Hemd, schwarze Schnürstiefel, gescheckte Feldmütze. Sein gebräuntes, hartprofiliertes Gesicht war mit stahlharten Augen auf eine rothaarige Assistentin gerichtet, die vor ihm stand und geduldig die geharnischte Rede des Stars anhörte. Als sich Gamma und Jennifer vorsichtig näherten, sagte er gerade: "Mein Gott bin ich wütend!". Und dann: "Was wollt ihr?".

"Drobo - das ist Jennifer. Ich glaube sie kommt von oben. Sie möchte mit dir reden!". Jennifer verkroch sich ängstlich in ihr Inneres. So schnell und so plötzlich stand sie nun vor ihrem persönlichen Helden. So viele Abenteuer hatte sie mit ihm erlebt im Film. Und jetzt war er wütend. Und sah sie forschend an. "Na", wandte er sich in nunmehr versöhnlichem Ton an Jennifer: "Wo kommst du her?" - "Aus Neu-Chemnitz" - "Aha, interessant. Meine Eltern lebten im ehemaligen Zwickau. Wie sieht es denn heute dort aus?". Jennifer war noch nie in Neu-Zwickau gewesen, traute sich jedoch nicht, das zuzugeben, und sagte fast wahrheitsgemäß: "Schön ist es dort. Alles ist neu. Die Sonne scheint und der rote Mohn blüht". Mehr fiel ihr nicht ein, doch Drobovik sprang begeistert auf. Die Vorstellung, dass über Neu-Zwickau die Sonne scheint, gepaart mit der unangenehmen Gewissheit, dass in seinem Zuhause, dem Untergrund, nie eine Sonne scheint, nahm ihn so für das neue Mädchen ein, dass er es an den Schultern fasste und zu ihr sagte: "Du musst mir noch mehr erzählen. Es ist Zeit für Lunch, und wir können uns dabei unterhalten. Komm!".

Zu essen gab es reichlich in der hochgewölbten "Teufelsgrotte", in der Stalaktiten von der Decke herab wuchsen. Ringsum saßen die sehr phantasievoll drapierten Akteure der laufenden Dreharbeiten. Jennifer musterte sie verstohlen und zugleich aufgeregt. Einige erkannte sie sogar. Drobovik unterbrach ihr Studium, indem er ihr vorschlug, im laufenden Filmprojekt mitzuarbeiten. "Weißt du was, ich finde, du könntest meine Kundschafterin sein - genau, das ist es, was mir bisher fehlte!". Jennifer sah ihn mit großen Augen an. "Ja - das fehlt im Set. Komisch, dass mir das erst jetzt auffällt. Klar, ich sehe es dir an, du bist eine richtig gute Kundschafterin!". Jennifer rieb verlegen ihre Nase. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was eine Kundschafterin ist und tut. Doch Drobo (wie sie ihn jetzt intern nannte) sah ihr intensiv in die Augen, so dass sie sich des Gefühls nicht erwehren konnte, er erwarte eine Antwort von ihr. "Das stimmt", sagte sie deshalb. "Wunderbar", rief Drobo. Er rückte näher zu ihr und begann zu erklären, wie er sich Jennis Rolle vorstellte.

So kam es tatsächlich so weit, dass Jennifer im neuen Film der Serie "Die schreckliche Familie Hackepeter" mit dem Titel "Alles Gute kommt von DA OBEN" mitspielen durfte. Den Filmtitel hatte Drobovik in seiner Eigenschaft als Produzent der Serie ganz spontan während seines Gesprächs mit Jennifer festgelegt. Da der größte Teil der Einnahmen auf der Erdoberfläche generiert wird, war es nur folgerichtig, dass auch dieser neue Film die Interessen und Vorlieben der überirdischen Fangemeinde berücksichtigen sollte.

Drobovik skizzierte dann grob die Idee und den Plot des Films. Jennifer soll auf abenteuerlichem Weg in die Unterwelt gelangt sein mit der Absicht, das Leben der Wutbürger auszuforschen. Im Verlauf ihrer Forschungen gerät sie an einem Freitag in eine Demonstration gegen die Filmindustrie. Die Banner zeigen Parolen wie "Keine Seelen für die DA OBEN!" oder "Schluss mit dem Ausverkauf unserer Heimat". Jennifer findet all das höchst spannend, denn Demonstrationen gibt es weder in Neu-Chemnitz noch sonstwo DA OBEN. Sie zeichnet alles auf inklusive ihrer Interviews mit diversen Wut-Demonstrationsteilnehmern. Jeden Abend speist sie ihre Berichte in den von der Universal Medien AG bereitgestellten Infokanal. Der wiederum dient den Nachrichtenkonzernen auf der Erdoberfläche als lizensierte Nachrichtenquelle.

"Jenni, du solltest immer im Hinterkopf haben, dass die Leute DA OBEN immer nur eines sehen wollen: Wut und Böses DA UNTEN. Das zeigen wir ihnen. Nichts anderes, außer vielleicht ab und zu was Intimes, da musst du aber nicht dabei sein". Jennifer war begeistert und tippte eifrig alles, was Drobo sagte, in ihr Kluges Telephon. "Natürlich müssen wir uns ein Ende ausdenken. Ich denke, es sollte tragisch sein. Wie möchtest du denn enden, Jenni?".

"Oh" - Jenni blickte verwirrt auf - "Ich ~ keine Ahnung!". Drobo half ihr: "Sieh mal, wenn die DA OBEN entdecken, dass du nicht die volle Wahrheit berichtest, also nie was Gutes, dann könnte es passieren, dass sie beschließen, dass du nicht mehr zurück an die Erdoberfläche darfst, zur Strafe sozusagen. Dann bist du quasi verbannt in den Untergrund! Wäre das nach deinem Geschmack?" "Ich weiß nicht ... das ist dann aber nur im Film so, oder?".

Jennifers Eltern, Otto und Gerda Rose, saßen einige Monate später auf ihrer Veranda mit Blick über das grüne Tal mit den hübschen Siedlungen und Weiden, den Wiesen, Feldern und Wäldern unter blauem Himmel, Sonne am Horizont, keine Windräder weit und breit - und waren geschockt. Im Nachmittagsprogramm hatten sie bei einem Schluck Wein den neusten Film der Serie "Die schreckliche Familie Hackepeter" mit dem Titel "Alles Gute kommt von DA OBEN" angesehen. Als plötzlich ihre Tochter im Bild war, waren beide vor Schreck fast vom Sofa gefallen. Jetzt, in der warmen Abendsonne, waren sie etwas gefasster, aber noch ganz benommen. Gerda schluchzte: "Was macht sie denn DA UNTEN? Schrecklich. Sag was, Otto". Otto sagte: "Es scheint ihr aber gut zu gehen. Du hast doch gesehen, sie ist Reporterin und berichtet über all das Böse, auf das sie DA UNTEN ständig stößt" - "Meinst du, sie macht das wirklich, oder nur im Film?" - "Bestimmt macht sie das immer, du kennst doch unsere Jennifer."

Tatsächlich sahen Otto und Gerda Rose ihre Tochter Jennifer erst viele Jahre später wieder, denn sie wurde lange Zeit von den überirdischen Behörden an der Einreise (Rückreise) gehindert. Begründung: Staatszersetzende Desinformation.

Generell ist die Erde für Gutbürger viel durchlässiger als für Wutbürger. Während die Unterirdischen gerne mit Oberirdischen verkehren, wollen die Gutbürger keine Wutbürger unter sich haben. Außer natürlich unter der Erde.

 

Noch ein Auszug aus Jennifers Schulbuch zum Thema "Gesellschaftskritik":

Der Gutbürger weiß, dass er Recht hat.
Der Wutbürger hat das Gefühl, dass er Recht hat, aber alle sind gegen ihn.