Leben III

5.7.2016

Am 20. Juli 2033 unterhielt ich mich mit Mike Burst, dem Sportredakteur der ZX-Media-Group. Wir saßen abends auf der Terrasse des Herzberg-Motocross-Clubheims, mit Blick über die Trainingstrecke mit ihren gewaltigen Sprunganlagen. Die Sonne schien schräg auf uns, so dass das Kamerateam ohne Scheinwerfer auskam. Meine Freundin Alysa saß zwischen uns. Sie schlürfte einen Gin-Whizz-Longdrink und schaute zufrieden drein. Vom Fahrerlager wehten Motorenklänge herüber, vermischt mit dem Duft der 2-Takt-Abgase. Mike, in schwarzem T-Shirt mit großen weißen Lettern <it's me, bastard>, rot berandeter Uhubrille, unrasiert (natürlich) und mit grüner Basecap bedeckt, reichte mir ein Mikrophon und begann, mit mir zu reden.

Mike: "Stephen (Mike spricht meinen Namen englisch aus, also wie 'Steven'), du bist ziemlich entspannt, obwohl in zwei Wochen die World-ZX-Freestyle-Championship in Berlin stattfindet. Macht dich das nicht nervös - gegen die Besten der Welt anzutreten?"
"Eigentlich nicht. Ich bin gut trainiert und freue mich auf den Wettbewerb".
"Cool. Na immerhin hast du in diesem Jahr schon drei ZX-Freestyle-Wettbewerbe gewonnen. Wobei es zuletzt in Dortmund knapp war..."
"...ohja, nur zwei Punkte vor Knacky Martens. Sein Backflip ist leider immer noch besser als meiner..."
"...dafür ist dein Cliffhanger legendär!"
"Naja!"
"Für unsere Zuschauer: wann hast du denn angefangen mit dem Crossfahren?"
"Uh, da war ich vier. Ich bekam eine KTM 50 zum Geburtstag. Damals gab es KTM ja noch. Damit bin ich auf der Crossstrecke in Sternberg herumgerutscht."
"Das war sicher ein guter Anfang. Deine Eltern haben dich unterstützt?"
"Und wie. All die Jahre kümmerten sie sich um mich. Mein Daddy war selbst ziemlich erfolgreich als Motocross-Rennfahrer. Er wusste immer genau, was ich als nächstes brauche und was zu tun war."
"Und deine Mutter machte die Butterbrote".
"Genau".
"Du warst mit 11 Jahren schon Landesmeister in Mecklenburg-Vorpommern. Wie war das möglich?"
"Viel Training und vor allem viele kleine Rennen in der Umgebung. Ich fand die Strecke in Upahl gut. Und meine ältere Schwester hat mich bewundert. Vielleicht war das ein Ansporn für mich".
"Bestimmt! Die große Schwester - jaja. Aber dann bist du ja bald ins Ausland. Erzähl mal."
"Ja, das war vor vier Jahren. Mein Daddy musste nach Birmingham in England, geschäftlich. Ich durfte mit. Und da hat er mich am Apex Motocross Track abgesetzt."
"Du meinst jetzt den berühmten Track in Worcestershire?"
"Genau. Er setzte mich dort mitsamt meiner LTM 250 SY-F ab. Dann trainierte ich 4 Tage lang."
"Hat's Spaß gemacht?"
"Oh ja. Sie haben dort auch eine Skischanze. Da geht der Bär ab. Das untere Ende zeigt aber nach oben, so dass du einen höllisch hohen Sprung machst!"
"Und da hast du dann mit Freestyle angefangen?"
"Noch nicht richtig. Aber in Sprungtechnik und Akrobatik kam ich ein ganzes Stück weiter."
"Das hört sich gut an! Wann ging's denn richtig los mit Freestyle?"
Ich nahm einen Schluck Sprizz und sah Alysa an. Sie lächelte verliebt, denn sie wußte, was ich jetzt sagen würde:
"Oh Mann, das war in Australien im letzten Jahr. Freestyle-Training in Lockhart in New South Wales, ganz in der Nähe von Wagga Wagga - kennst du vielleicht?"
"Absolut nicht!"
"Na ja, auf jeden Fall traf ich dort Alysa. Das war krass. Gleich verliebt in sie."
Alysa lächelte und schaute jetzt ebenfalls total verliebt drein.
"Und übrigens, kennst du Emma? Emma McFerran meine ich. Nicht? Mann, sie war vor 20 Jahren das erste FMX-Girl in Australien (also da war ich noch nicht auf der Welt) und die erste Frau in der ganzen Welt, die einen Back Flip (Rückwärtssalto, Anm. d. Red.) sprang. Und sie ist jetzt Ausbilderin. Hat mir einiges gezeigt."

"Wie lang warst du da unten?"
"Vier Wochen. Dann musste ich zurück wegen dem MX1-Rennen in Holland. Und Alysa habe ich gleich mitgenommen". Ich sah sie an. Sie wurde rot. "Ja", hauchte sie und nahm schnell einen Schluck vom Whizz.
"Okay. Du hast dann Anfang dieses Jahres am Supercross Event in Berlin teilgenommen."
"Genau. Das war ein Show Event. Kein Meisterschaftslauf, aber ein Riesenspaß."
"Und vor allem im BerlinDome!"
"Ja, das war riesig. Da kommen dann über vierzigtausend Zuschauer! Alysa hatte einen Platz auf dem VIP-Balkon."
"Das war super!" meldete sich Alysa plötzlich und unerwartet, und verstummte dann abrupt. Sie griff wieder zum Whizz.
"In zwei Wochen springst du wieder im BerlinDome."
"Ja genau. Das ist dann die Monster-Championship - der fünfte Lauf in diesem Jahr. Mal sehen, ob ich diesmal besser abschneide als zuletzt."
"In Daytona, meinst du?"
"Ja, da bin ich gestürzt, leider."
"In zwei Wochen kannst du alles wieder gut machen. Ich wünsche dir viel Glück!"
"Danke, Mike. Komm doch einfach vorbei. Du kannst gern mit Alysa zuschauen."
Alysa sah mich erstaunt an und schaute dabei etwas bedröppelt drein.
"Komm, wir trinken noch einen gepflegten Whiskey."
So machten wir es. Die Füße in Cowboyart auf dem Tisch genossen wir die letzten Strahlen der untergehenden Sonne.

Später, zuhause, bereitete Alysa ein Mozarella-Tomaten-Arrangement zu, während OMEGA das Neueste rezitierte.
OMEGA ist unser digitaler Assistent. Im Moment schwebte er über dem Tisch, um Alysa bei der Arbeit zuzusehen. Dabei erzählte er die neuesten Nachrichten aus aller Welt und Sportergebnisse.

OMEGA*, den ich Omm nenne, ist ein dickbäuchiger Diskus, ein intelligenter Lautsprecher mit permanenter Internetverbindung. Er schwebt in seinem eigenen Gravitationsfeld und kann sich überall aufhalten. Das Schwerefeld ist kaum spürbar, nur eine Kerzenflamme brennt leicht schräg, wenn sich Omm in der Nähe befindet.

Auf der Terrasse des Penthouses, es war schon dunkel, saßen Alysa und ich dicht beeinander bei einem Glas australischem Coonawarra Chardonnay und betrachteten den großen hellen Vollmond über weißen Wolkenstreifen. Omm schwebte etwas entfernt und bot Musik dar. Wir unterhielten uns wie so oft über unsere Zukunft. Alysa möchte Pilotin werden. Sie träumt davon, mit mir in unserem eigenen Flugzeug herumzufliegen. Zur Zeit absolviert sie ein Praktikum beim Quantas Field Service. Deshalb musste sie am nächsten Tag zu einem Einsatz mit Triebwerkschaden nach Paris düsen. Und ich wollte gleich morgens einkaufen fahren und danach in den Cycle Parts Shop, um einige Ersatzteile zu kaufen. Doch jetzt war das Hier und Jetzt und deshalb rief ich:

Omm (und Alysa)

"Omm!". "Ja mein Gebieter" (das habe ich ihm beigebracht, aus Spaß), erwiderte dieser. "Komm her und lies uns eine Gutenachtgeschichte vor". Omm erglühte hellblau vor Begeisterung und positionierte sich hinter uns, um von dort quasi aus dem Hintergrund eine schöne Geschichte in Originalton zu präsentieren. Man muss wissen, dass Omm alle Sprachen kann, auch Tiersprachen. Alles was er liest, ist sozusagen das Original.

Omm hub an: "Wohl auf keiner meiner Reisen hatte ich so schreckliche Gefahren auszustehen wie bei meiner Expedition nach Amauropien, einem Planeten im Sternbild des Zyklopen...". Alysa erzitterte in meinen Armen. "Was ich dort erlebte, verdanke ich Professor Tarantoga. Dieser hervorragende Astrozoologe ist ja nicht nur ein berühmter Forscher - bekanntlich ist er in seiner Freizeit obendrein Erfinder. Unter anderem hat er eine Flüssigkeit zur Ausmerzung unerfreulicher Erinnerungen erfunden, ferner die Banknoten mit der liegenden Acht, dem Symbol für unendlich hohe Geldbeträge, dann drei verschiedene Methoden der photogenen Färbung von Nebelschwaden sowie ein Spezialpulver, das auf die Wolken gestreut wird, um ihnen dauerhafte Formen zu verleihen...". "Omm, steht das wirklich da? Oder erfindest du mal wieder?". Indigniert gab Omm keine Antwort und fuhr fort: "Sein Werk ist ferner die Apparatur zur Verwertung der ansonsten - da Kinder keinen Augenblick stillhalten können - vergeudeten kindlichen Energie...". Alysa seufzte und kuschelte sich noch tiefer. Dabei gähnte sie anhaltend und ansteckend. "Besagte Vorrichtung besteht aus einem ganzen System von Kurbeln, Blöcken und Hebeln, die an verschiedenen Stellen der Wohnung angebracht sind. Sie werden von den Kindern beim Spielen hin- und hergeschoben, gezogen und versetzt, so dass sie unbewusst Wasser pumpen, waschen, Kartoffeln schälen, Strom erzeugen, und so weiter. Es ließ dem Professor keine Ruhe...". Nun waren auch mir die Augen zugefallen. Was weiter geschah, weiß ich nicht. Omm auf jeden Fall löschte noch die Kerze auf dem Tisch durch rasches Überfliegen und zog sich darauf zurück in die Wohnung.

Während Alysa als Field Service Technikerin für Quantas unterwegs war, arbeitete ich meist recht intensiv mit Omm. Da Omm alles wußte, konnte er alle Fragen beantworten. Auf dem Wanddisplay zeigte er mir Explosionszeichnungen, Racetracks von oben und im Profil, Flugberechnungen (die Trajektorien mit allen Ablaufdaten), Simulationen, Menues, und alle Arten der Zubereitung von Sushi. Tatsächlich hatte ich vor, Alysa bei ihrer Rückkehr mit einem reichhaltigen Nigiri-Sushi zu überraschen.

Häufig ließ ich Omm Informationen aus der Freestyleszene besorgen. Er berichtete akkurat, welche Events wann und wo stattfinden, und wer daran teilnimmt. Ich hörte mit geschlossenen Augen zu. Dadurch kann ich mir Termine besser einprägen, als wenn ich sie auf einem Kalender sehe. Stunden verbrachte ich damit, Videoclips anzusehen, die meine Freunde und zugleich Konkurrenten bei ihren Stunts zeigen. Die Vormittage waren allerdings reserviert für Sport und Training. Omm hatte anfangs angeboten, mitzufliegen, um mich zu "betreuen". Doch das lehnte ich ab. Einige meiner Kumpels fuhren allerdings mit Kameradrohnen, die beim Renntraining auf der Crossstrecke über, neben, hinter und vor ihnen flogen, je nach Streckenabschnitt, also bei Sprüngen meisten seitlich daneben und in Kurven vorweg in niedriger Höhe. Ich hatte aber nicht das Bedürfnis, viel Zeit in solche Auswertungen zu stecken. Statt dessen analysierte ich mit Omms Hilfe die Bewegungsdaten, also die positionsgenaue Aufzeichnung von Geschwindigkeit, Beschleunigung in drei Achsen, Höhe über Grund, Brems-/Gas-Dosierung, sowie Motordaten wie Öl-, Abgas-, Bremsscheibentemperaturen.

Am dritten Abend der Abwesenheit von Alysa saß ich auf der Terrasse und unterhielt mich mit Omm über Freestyle-Geschichte. Er grub einige alte Videos aus, zum Beispiel von den Pionieren des Back Flips Mike Metzger und Travis Pastrana (am Ende des vorigen Jahrhunderts). Oder der legendäre Double-Backflip von Mike im Jahr 2006. Fast dreißig Jahre her. Über die Jahre gab es dann zu viele Unfälle mit dem Double-Backflip, so dass dieser Stunt heute nicht mehr vorgeführt wird.

Dann zeigte mir Omm einen Artikel, den er auf der Data Universe Website gefunden hatte. "Das scheint ein Bericht eines Freestylers zu sein, der in Kürze sein ganzes Leben beschreibt. Vielleicht interessant."

Data Universe

Ich überflog den Artikel, ein Essay, um dann aufmerksam geworden nochmal von vorn zu beginnen. Ich sagte zu Omm: "Der Typ, der das geschrieben hat, ist am Ende tot. Kein Name angegeben. Kannst du rauskriegen, wer das war. Das müsste doch in den Archiven stehen, wenn einer bei einem Major Event tödlich verunglückt... außerdem steht ja drin, dass das in Dortmund Ende 2014 war." Oops, und da war es schon: in der Erklärung der Dortmund Supercross Veranstaltungsleitung zum Vorfall wurde der Fahrer als Steffen Mistell angegeben. "Nie gehört", ließ ich Omm wissen.

Ich legte den Artikel erst mal auf die Seite, sozusagen, und begann, die Sushis vorzubereiten. Omm gab die Anweisungen dazu, so dass ich gar nicht überlegen musste, was ich machte und wie ich es machte.

Abends kam Alysa zurück von ihrem Field Service Einsatz. Ein Supersonic Jet der Majo Airlines (Mexiko) war auf dem Lokalflughafen in Boa Vista notgelandet wegen Treibstoffmangel und hatte dabei einen Fahrwerkschaden erlitten. Nach der aufwendigen Reparatur schenkten die Eingeborenen dem Reparaturteam Naturalien, denn sie wünschten sich vor allem den Metallvogel weit weg. So kam es, dass Alysa eine Kokosnuss und eine Ananas, ganz frisch, auf den Tisch legte. Sie war ziemlich müde, aber ihre Augen lächelten mich wie immer an. Hand in Hand genossen wir das Sushi-Gericht - mit köstlichem Sunomono Gurkensalat, Omms Idee. Später legte sie sich auf der Terrasse nieder und ich setzte mich zu ihr, um den Data Universe Artikel zu lesen. In der Abenddämmerungen simulierte Omm den Mond über der Brüstung mit gelbem Schimmer.

Dieser Steffen hatte ganz offensichtlich eine klassische Motocrosskarriere hingelegt. Einige gute Ausbildungsstationen waren dabei gewesen. Fast so war es auch bei mir. Ich war zwar nicht in Daytona zum Freestyletraining gewesen, aber in Australien. Und mein Daddy war wie seiner immer sehr spendabel gewesen. Ich fahre zwar nicht KTM (die Firma gibt's nicht mehr), dafür aber LTM, die beste Marke aus der Manufaktur in Singapur. Interessant fand ich die Passagen über das Sarholz Racing Team. Das gibt es noch unter Führung von Burkhards Sohn Holger. Auch einige der Großen von damals, wie Kai Haase oder Marvin Hesse sind heute noch bekannt. Kai zum Beispiel ist im Vorstand der Monster ZX Freestyle Corporation, die den Wettbewerb in Berlin ausrichtet.

Das war schon interessant und ich konnte mich in diesen Steffen sehr gut hineinversetzen. Vielleicht schreibe ich später auch mal so eine Zusammenfassung. Irritierend ist natürlich sein plötzlicher Abgang. Und dann ohne das nächste Leben geplant zu haben. Ich nahm mir vor, dass mir das nicht passieren soll. Ganz spontan beschloss ich, falls mir das Geiche passieren sollte, wieder Motocross-Rennfahrer zu werden. Damit hatte ich zumindest den Plan formuliert, so dass das schon mal nicht schiefgehen konnte.

Es war inzwischen dunkel geworden. Ich trug Alysa ins Schlafzimmer. Sie wachte nicht einmal auf, so anstrengend muss es in Südamerika gewesen sein. Danach nahm ich noch einen Whiskey am Esstisch in der Küche und unterhielt mich mit Omm. Der kam von sich aus noch einmal auf den besagten Data Universe Artikel zu sprechen. "Mir fiel auf: Steffen könnte Stephen sein. Ihr seid euch sehr ähnlich", sagte er. "Vielleicht, aber fast alle in unserem Sport laufen durch die gleichen Stationen", antwortete ich. "Außerdem bin ich nie Supercross in Valkenswaard gefahren". "Das stimmt..." - Omm überlegte - "aber den WM-Lauf in Teutschenthal. Ihr seid beide in denselben Phasen Supercross und dann Freestyle gefahren." "Na, mein lieber Omm, du hast zu viel Phantasie. Gute Nacht!"

Angenehm benebelt vom Kilbeggan (Single Grain) legte ich mich zu Alysa. Sie atmete ruhig und gleichmäßig, so dass ich gleich einschlief. Zuerst erschien es mir, als ob ich einen langen Tunnel durchführe. Das Licht am Ende des scheinbaren Tunnels wurde heller, bis es meinen gesamten Gesichtskreis ausfüllte und sich als ein sternenübersäter Nachthimmel entpuppte. Die Sternbilder erschienen zum Greifen nah. Paradoxerweise standen die Sterne nicht still, sondern formierten sich zu immer neuen Gebilden. In einem davon erkannte ich die Gestalt eines Motocrossfahrers im Sprung, der plötzlich erstarrte. Von da an war der Himmel wie eingefroren. Bevor diese Szene wegglitt, huschte das Gefühl kindlichen Estaunens vorüber.

Am nächsten Morgen, beim Fühstück, nahm ich den Artikel zur Hand und fand darin ein Bild, das mir beim ersten Lesen nicht aufgefallen war: der Sternenhimmel aus der Sicht des im Kinderwagen liegenden Stephen. Deutlich war ein Motorrad mit Fahrer zu erkennen. Und dabei erfuhr ich auch, dass es sich um das Sternbild MX handelte. Ein kleiner Schauer lief mir über den Rücken, denn mein Traum war ganz klar die Abbildung eines tatsächlich selbst erlebten Geschehens gewesen. So war mein Gefühl, zumindest. Ich hörte darauf Omms Nachrichten, um mich abzulenken.

Die folgenden Tage trainierte ich fleißig für Berlin und erwartete angstvoll die Nächte mit ihren seltsamen Träumen. Einmal war ich in Daytona, obwohl ich in Wirklichkeit nie dort gewesen bin, und sah mich am Supercross Circuit stehen, und dann übergangslos im Fahrerlager die Maschinen der Champions leuchten. Ein anderes Mal saß ich mit einem sehr schönen Mädchen am Rande eines Sees. Meine Zuneigung war überwältigend, doch Rauchschwaden von einem Holzkohlegrill hinter uns verhüllten das weitere Geschehen. Ihren Namen hatte ich mehrmals ausgesprochen, doch beim Aufwachen war er aus meinem Gedächtnis verschwunden.

In der dritten dieser Nächte wachte ich mit einer entsetzlichen Panikattacke auf. Gerade hatte ich den Albtraum der Freestyle-Artisten durchlebt: den Absturz. Ich war aufgestiegen, in den Cliffhanger gewechselt und hatte mit einem kurzen reflexhaften Blick nach rechts auf eine Bewegung von Marija reagiert. Jetzt war der Name wieder da. Da bekam ich mein Bike nicht mehr zu fassen und stürzte ab. Alles geschah in Zeitlupe. Der Aufprall, das Geflimmer, die Stimmen, das schwerelose Gleiten, immer höher, bis ich mich selbst liegen sah, und weiter in eine grenzenlose Dunkelheit hinein, das ganz langsame Hellerwerden, Umrisse, Gestalten, Gesichter, Stimmen. Mein letzter Eindruck vor dem erschreckten Erwachen war der einer sehr eingeschränkten Situation. Ich lag in einem sehr kleinen Bett - mit sehr kleinen Händen...

Eine gewaltige Vorstellung breitete sich in meinem Kopf aus: Ich war Stephen. Gewesen. Nichts war klarer als das. Eine ganze Weile lag ich mit geschlossenen Augen da. Noch mehr Szenen zogen vor meinen Augen vorbei. Meine Eltern, mein Freund Johan, die Rennstrecke in Borzow - alle Namen waren plötzlich präsent - die Schule in Borzow und wie ich das Springen auf der Rampe im Garten meiner Eltern gelernt hatte. Es war unheimlich, was mit mir geschah. Denn jetzt wusste ich mit Gewissheit, dass ich nach dem Unfall in Dortmund eine neue Chance bekommen hatte und jetzt noch einmal lebte, mein zweites Leben. Doch nein, das dritte Leben, denn das zweite hatte ich ja selbst beschrieben. Leider steht darin nichts über mein erstes Leben, aber das macht nichts.

Alysa hatte Eier mit Schinkenspeck zum Frühstück zubereitet. Am Esstisch, Omm las wie immer die Nachrichten vor, sah Alysa mich besorgt an. "Du bist blass", sagte sie. Ich war in diesem Moment bereit, ihr alles zu gestehen, doch dann sagte ich: "Ich habe schlecht geträumt, mein Schatz. Ich war schon einmal auf der Welt. Aber, weißt du, ich möchte dir das alles nach Berlin erzählen, das verspreche ich dir". Alysa schaute nun traurig drein, aber sie lächelte wie immer.

Es wurde Zeit, die Sachen zu packen für die Fahrt nach Berlin. Später, auf der Autobahn (im Audi RS 5 Cabriolet) ließ ich den Wind alle Gedanken an die Vergangenheit aus dem Kopf blasen. Alysa saß in einem schicken silbern besetzten schwarzen T-Shirt neben mir und schaute glücklich drein. Immer wenn Alysa glücklich ist, dann geht es mir gut. Meine LTM 450 RSX Maschine war per Fracht unterwegs. In Berlin stiegen wir im Sport Hotel in der Rosa-Luxemburg-Straße, nicht weit vom BerlinDome entfernt ab. Dort waren auch meine Freunde von der Freestyle-Szene untergebracht. Am Abend vor dem Event saßen wir zusammen an der Bar und erzählten die neuesten Abenteuer und was noch passieren würde. Alysa schlang ihren linken Arm um meine Hüfte und hielt in der rechten Hand einen sündhaft teuren Gin-Fizz-Longdrink, den sie in kleinen Abständen schlürfte. Irgendwann kamen wir auf den Event am nächsten Abend zu sprechen. Ausgerechnet Knacky, unser bester Springer, schlug mir vor, gemeinsam einen Overdrive zu springen. Das ist eine Nummer, die es erst seit wenigen Jahren gibt. Dabei fliegen zwei Fahrer übereinander, also einer überspringt bzw. überfliegt den anderen. Gestartet wird auf konvergierendem Kurs von zwei Parallelrampen. Es kommt darauf an, die Flugbahnen zu kreuzen, so dass jeder genug Platz für die Landung hat. Ich stimmte zu, denn den Overdrive war ich schon ein paar mal geflogen.

BerlinDome

Am Nachmittag des nächsten Tages gingen wir zum BerlinDome** hinüber. Eine riesige Kuppel überragt das Stadtzentrum in Osten Berlins. Nachts ist der Dome in orangefarbenes Licht getaucht. Doch es war noch hell. Zuerst kümmerte ich mich um mein LTM Sportgerät. Es stand im Fahrerlager in der Reihe aller Motorräder. Akribisch prüfte ich alle Befestigungen, die Kettenspannung, und die Tankfüllung. Die anderen waren auch da. Wir gingen in die VIP-Lounge, um uns ein wenig mit Powerdrinks zu erfrischen. Die Spannung wuchs. Auf der Terrasse der Lounge beobachteten wir den Zustrom der Zuschauer ins Motodrom bei lauter Musik. Die Start- und Landerampen wirkten fast klein in der riesigen Halle. Mir kribbelte die Kopfhaut, aber ich blieb ruhig und ging in Gedanken die Sprünge in der geplanten Reihenfolge durch. Vor dem Freestyle-Programmteil fanden mehrere Supercrossrennen in der Halle statt, die wir uns ansahen und dabei ein wenig vom Buffet aßen. Dann war es soweit. Wir gingen hinunter ins Fahrerlager. Ich umarmte meine Alysa und küsste sie zärtlich. Sie strahlte und mir wurde es warm. Wir machten das immer so. Das war der Kick für die kommende Flugstunde.

Unsere Maschinen standen vor den beiden Startrampen. Zuerst gab es das INTRO. Wir, d.h. sechs Fahrer, stiegen unter himmlischen Fanfarenklängen eine lange und steile Treppe zum Siegerpodest empor. Oben wurden unsere Namen verlesen und die jeweiligen Erfolge in diesem Jahr. Ich winkte Alysa zu, die auf der VIP-Terrasse saß. Neben ihr erblickte ich Mike mit seiner seltsamen Uhubrille. War er also doch gekommen! Wir stiegen wieder hinunter und stellten uns auf.

Hard Rock hämmerte nun auf die Zuschauer ein. Der Boden bebte und der Stadionsprecher kündigte jeden Stunt an. Wir begannen mit Backflips und steigerten nach und nach den Leistungslevel. Nach etwa 20 Minuten, also rund 10 Minuten vor dem Schluss der Show kündigte der Sprecher als einen der Höhepunkte den Overdrive an. Knacky und ich standen am Start. Er gab das Zeichen und wir starteten gleichzeitig, wobei Knacky als Überflieger mit mehr Tempo und aufrechter sprang, um höher zu kommen. Ich kreuzte kanpp unter ihm auf die andere Landebahn. Wir winkten bei der Rückrunde den Zuschauern zu. Ich sah Alysa stehend applaudieren. Wir flogen den Overdrive noch einmal. Und dann noch einmal, das letzte Mal.

Ich flog einen Tick zu hoch und knallte mit dem Kopf gegen Knackys Fußraste. Der Schlag kippte mein Motorrad (und mich) in die Waagerechte und weiter, so dass ich kopfüber nach unten stürzte. Im letzten Moment sah ich noch Alysa, quasi auf dem Kopf stehend, mit offenem Mund, die Arme hochreißend. Dann wurde es abrupt DUNKEL.

Noch im Motodrom wurde mein Tod festgestellt: GLATTER GENICKBRUCH. Zum Glück hatte ich schon vorher mein nächstes Leben geplant. Doch ob es tatsächlich ein Leben nach meinem dritten Leben geben würde - da war ich mir absolut nicht sicher.

Gibt es ein Leben nach dem dritten Leben?

*OMEGA ist die achte Generation des Google Home "Lautsprechers" aus dem Jahr 2016 und heute der weltweit meistverbreitete digitale Assistent. Das Konkurrenzprodukt, der Amazon ECHO, war damals zunächst erfolgreich, wurde aber im Jahr 2019 vom Markt genommen, weil er bei weitem nicht an Homes Allwissenheit herankam und eigentlich nur Bestellungen entgegennehmen und ausführen konnte. Googles Datenbanken mitsamt Auswertungs- und Bewertungsalgorithmen (heute: Data Universe) dominieren in allen Bereichen, denn keine Regierung, keine Universität, keine internationale Vereinigung weiß so viel über die Menschen, die Menschheit und die Welt. Es ist nicht nur das größte Wissen aller Zeiten, sondern auch das aktuellste.

**Der BerlinDome wurde im Jahr 2030 fertiggestellt. Er nimmt den gesamten Alexanderplatz ein. Mit dem Bau wurde dem kriminellen Treiben auf dem Alexanderplatz ein für alle mal ein Ende gesetzt. Es gibt schlichtweg keinen Alexanderplatz mehr.

Quellen:

Emma McFerrans Backflip: https://www.youtube.com/watch?v=Pp7Ihtr8lOI
Google Home: http://www.nytimes.com/2016/05/19/technology/google-home-a-voice-activated-device-that-already-knows-you.html?ref=technology&_r=0
Das zweite Leben: Das nächste Leben