Klara Russow

Klara Russow hat Sorgen

15.1.2016

Klara Russow, 82, lebt seit ihrer Geburt in Bertikow bei Uckerfelde. Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie allein in ihrem Haus, das fast so alt ist wie sie selbst. Einmal in der Woche geht sie einkaufen in einem kleinen Laden in der Hauptstraße. Dort trifft sie andere Frauen aus dem Ort, mit denen sie das Neueste besprechen kann. Das ist wichtig für sie, denn zuhause erfährt sie wenig ohne Fernsehen und ohne Internet.

Sie lebt sehr einfach in ihrem kleinen Haus mit Garten. Sofern es das Wetter zulässt verbringt sie die meiste Zeit mit Gartenarbeit. Der Anbau von allerlei Gemüse, Salaten, Kartoffeln, Gurken und Obst wirft einen kleinen Überschuss ab, da sie ihre Erzeugnisse für ein Taschengeld an den Laden verkaufen kann. Geld behält sie zuhause. Das Bankkonto ihres Mannes wurde damals nicht weitergeführt.

Vor ein paar Tagen brachte Klara neue Ernte in den Laden, um wie immer einige Euros dafür zu erhalten. Torsten Liskow, der Ladeninhaber, bedankte sich für die frische Ware, hob dann mit Bedauern die Hände und sagte: "Liebe Frau Russow - ich würde Ihnen gerne Ihr Geld geben, aber - Sie wissen ja - es gibt kein Bargeld mehr."

Klara meinte, nicht richtig gehört zu haben. "Wie bitte? Was meinen Sie?" - "Wissen Sie das denn nicht?", erwiderte Liskow, "Seit Anfang der Woche gibt es Bargeld nicht mehr. Nicht bei der Bank und auch nicht bei mir." Er sah, dass seine alte Bekannte Russow an seinem Verstand zweifelte, deshalb fuhr er fort: "Es ist so! Natürlich gibt es noch Geld, aber kein Bargeld mehr. Man kann es nicht mehr anfassen. Alles geht elektronisch."

Klara hatte einen kleinen Schwächeanfall und setzte sich in den Korbstuhl am Gewürzregal. Behutsam strich sie ihre Schürze glatt, blickte dabei zu Torsten auf und sagte bittend: "Aber ich möchte gerne ein wenig Geld für die Salate - ich brauche es doch." Herr Liskow ging in die Hocke und nahm Klaras Hand in die Seine. Er fühlte mit ihr. "Natürlich. Ich überweise Ihnen das Geld. Sie müssen aber ein Konto haben bei der Bank."

Als Klara wieder zuhause war, ergriff sie die Verzweiflung. Alles war wertlos. Ihr Erspartes in der Gelddose. Kein Einkommen mehr bei so viel Arbeit. Warum nur? Sie verstand nicht, warum man kein Geld mehr brauchte, und wie das gehen sollte. Sie beschloss, am nächsten Tag zur Sparkasse im nächsten Ort zu fahren und durchsuchte den alten zerknitterten Busfahrplan nach der Abfahrtzeit am Vormittag.

In der Sparkasse, die vormals die kleine Rente ihres Mannes auszahlte, wartete Klara auf ein Gespräch mit dem Filialleiter, Herrn Rudolph. Als es soweit war, durfte sie in Rudolphs Büro Platz nehmen. Der strahlte sie an: "Na, Frau Russow, was kann ich denn für Sie tun - nach all der Zeit?"

Klara sammelte sich. "Schaun Sie. Ich habe hier mein Geld mitgebracht. Zur Sicherheit. Denn man kann es nicht mehr benutzen - sagt Herr Liskow" - "Ach natürlich", erwiderte Rudolph, "Sie geben es unserer Bank und wir passen darauf auf. Und Sie können selbstverständlich damit bezahlen. Ich erkläre Ihnen gerne, wie das geht."

"Als erstes brauchen Sie ein Bankkonto bei uns", erklärte Rudolph. "Da zahlen wir nachher Ihr Geld ein. Soweit so klar?" Klara kam das bekannt vor. Ein Bankkonto hatten sie früher ja schon gehabt. "Jaja", murmelte sie.

"Dann müssen wir schauen, wie Sie Ihr Geld ausgeben können. Wäre Ihnen eine Girocard recht, oder eher eine Kreditkarte?". Klaras Gesicht sprach Bände. Rudolph merkte, er musste weiter ausholen. "Also. Mit der Girocard können Sie in den meisten Läden bezahlen, aber nicht im Ausland. Das geht dann nur mit der Kreditkarte." Keine Reaktion. "Reisen Sie oft ins Ausland? Vielleicht nach Polen oder Russland?" Klara erholte sich allmählich und war nun bereit, zu reden.

"Ich reise nie irgendwo hin. Ich habe doch meinen Garten. Und die Vögel und mein Haus. Und das Geld würde gar nicht bis Polen reichen" - "Ausgezeichnet", rief Rudolph. "Dann ist die Sache ja klar. Wir stellen Ihnen eine Girocard aus. Damit können Sie immer so viel bezahlen, wie Sie Geld auf dem Konto haben. Wir wollen ja nicht überziehen, nicht wahr?"

In ihrem langen Leben hatte Klara Russow viel erlebt. Den Krieg und die harte Zeit danach. Den Bau ihres Hauses, die Kinder. Tod und viel Leid, aber auch glückliche Zeiten. Jetzt war vieles auf einmal zu Ende, das spürte sie. Ein Leben ohne eigenes Geld, nur auf der Bank. War das nicht auch so, als der Bank das Haus gehörte, bis es abbezahlt war? Und jetzt wieder? "Wie bitte?"

"Na, ich denke, wir machen das so. Ich möchte Ihnen noch eine Besonderheit zeigen. Sehen Sie mal. Ich habe hier eine Girocard. Normalerweise stecken Sie die Karte in ein Lesegerät beim Händler." Herr Rudolph steckte die Karte in ein Lesegerät, das wie zufällig auf seinem Schreibtisch stand. "Dann weiß der Händler, aha, Frau Russow hat Geld auf der Bank und er bekommt gleich einen Teil davon für die Ware".

"Nur mit dieser Karte?", warf Klara ein. "Oh ja!", Rudolph war in seinem Element, "aber es kommt noch besser!"

"Statt zu stecken können Sie die Karte auch einfach hinhalten. Sehen Sie mal, so...". Er ging um den Schreibtisch, um vor dem Lesegerät zu stehen, Frau Russow neben sich. Er zeigte, wie er die Karte kurz und ganz nah an das Lesegerät hielt und sie wieder zurückzog. "So einfach. Das können Sie auch im Vorbeigehen machen - wollen Sie das mal versuchen?"

Er half Klara aus dem Stuhl und geleitete sie zur Tür hin. "So, stellen Sie sich vor, Sie sind im Laden bei Liskow und dort auf dem Tisch, das ist die Kasse. Sie gehen hin und legen Ihre Ware auf den Tisch. UND DANN, dann nehmen Sie Ihre Karte und halten Sie vor das Gerät. Nur eine Sekunde lang. Das ist alles. Damit haben Sie schon bezahlt." Rudolph strahlte über das ganze Gesicht.

Klara sah ihn an und ging los. Sie legte imaginäre Sachen aus einem imaginären Einkaufskorb auf den Tisch. Es war sicherlich ein Traum. Bald würde sie aufwachen und zuhause sein. Sie nahm die Karte zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie an das Lesegerät. Das Gerät machte 'Kling'. Sie nahm die Karte zurück und ging weiter.

"Fein", sagte der Bank-Filialleiter. "Jetzt bitte noch einmal. Sie könnten Ihre Karte versuchsweise einfach am Gerät vorbeiziehen." Klara stand am Fenster und bereitete sich auf den zweiten Versuch vor. Wieder legte sie unsichtbare Sachen auf den Tisch und führte die Karte mehr oder weniger am Gerät vorbei. "Halt", hörte Sie. "Haben Sie gehört? Es gab kein 'Kling'. Bitte nochmal das Ganze."

Nach weiteren drei Versuchen war Herr Rudolph zufrieden. Klara sank erschöpft in den Korbstuhl. Eine Bankangestellte brachte ihr eine Tasse Tee und lächelte sie freundlich an. Herr Rudolph lobte sie. Klara fand ihn ein wenig aufdringlich, aber ganz nett. Die Übung hatte sie schon vergessen. Es war etwas mit Bezahlen gewesen, aber ohne Geld. Also eigentlich nicht bezahlen. Sie wollte jetzt nicht weiter darüber nachdenken.

Der nette Herr Rudolph brachte sie bis zum Ausgang. "Meine liebe Frau Russow. Es war mir ein Vergnügen. Grüßen Sie mir bitte Herrn Liskow. Alles Gute!". Er nahm Klaras Hand und verneigte sich leicht. Klara sah ihn mit hellen Augen an und sagte: "Ich danke Ihnen", und ging.

Zuhause angekommen ging Klara zuallererst zur Gelddose in der Küche. Es ließ ihr keine Ruhe. Es musste noch Geld da sein. In der Dose war jedoch nur eine Münze. Es war ein 5 D-Mark Stück. Siebzehn Jahre alt. Damals war ihr kleiner Enkel zu Besuch gewesen und hatte mit der Münze gespielt. Klara spürte Tränen in den Augen. Sie setzte sich ans Fenster und sah in den Garten hinaus.

Am nächsten Morgen ging Klara zum Laden und richtete Herrn Liskow die Grüße des Bankchefs aus. Er freute sich und beglückwünschte Frau Russow zu ihrer neuen Girocard. "Sie werden sehen, liebe Frau Russow, jetzt geht alles einfacher. Niemals mehr das Portemonnaie vergessen, kein Geld fällt mehr auf den Boden, kein Räuber kann Ihnen Ihr Geld wegnehmen. Na?"

Klara nickte stumm und führte ihre Geldkarte am Lesegerät vorbei wie geübt. Es machte 'Kling'. Und es klang nicht so, als ob sie in diesem Moment weniger Geld hätte. Nicht so wie früher, als sie ihr streng Erspartes für Milch und Eier opferte. Doch das berührte sie nicht. Der Krieg war gekommen und wieder gegangen. Das Geld war jetzt verschwunden und würde eines Tages wiederkommen. Dessen ist sie sich sicher.